Kategorie: Hintergrundbericht

  • Zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung

    Zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung

    „Der Internationale Tag der Menschen mit Behinderungen am 3. Dezember jeden Jahres (veraltet: Internationaler Tag der Behinderten) ist ein von den Vereinten Nationen ausgerufener Gedenk- und Aktionstag, der das Bewusstsein der Öffentlichkeit für die Probleme von Menschen mit Behinderung wachhalten und den Einsatz für die Würde, Rechte und das Wohlergehen dieser Menschen fördern soll.“ [1]

    Hier setzen sich beispielsweise die Behindertenbeiräte der Städte für behinderte Menschen ein. Doch was ist überhaupt ein Behindertenbeirat, welche Rechte hat er, welche werden dem Beirat wirklich zugestanden, oder ist das alles nur Social Washing? (Wir tun so als wenn wir etwas gutes machen wollen, machen es aber nur halbherzig oder gar nicht.)

    Behindertenbeiräte sind ein Zusammenschluss, meist ehrenamtlich, von Menschen mit den verschiedensten Behinderungen, die sich für die Belange von Menschen mit Behinderung einsetzen und deren Rechte (u. a. jene niedergeschrieben in der UN-Behindertenrechtskonvention) gegenüber der Politik vertreten. Eine Umsetzungsmöglichkeit der UN-Behindertenrechtskonvention für die Politik wird z. B. durch den „Nationalen Aktionsplan“ des BMAS (Bundesministerium Arbeit und Soziales) vorgegeben und soll in Zusammenarbeit mit den Behindertenbeiräten umgesetzt werden. Sie kommen also immer dann zum Zuge, wenn die Politik etwas plant, zum Beispiel einen Neu- oder Umbau oder eine städtische Veranstaltung.

    In Erfurt gibt es einen Behindertenbeirat für die Stadt, und einen weiteren für das Land Thüringen. Der Beirat für Erfurt hat eine weitere Untergruppe, die sich „AG Barrierefreies Erfurt“ nennt. Hier war unser Pirat Markus Walloschek vor 20 Jahren Gründungsmitglied. Die Erfurter Gruppen werden von der Behindertenbeauftragten der Stadt Erfurt geleitet.

    Markus Walloschek erklärt über die Arbeit der Räte Folgendes:

    „Während sich der Beirat vor Corona ungefähr vier Mal im Jahr traf, traf sich die AG fast monatlich, machte Begehungen in der Stadt, und versuchte, immer alle Behinderungen zu berücksichtigen um ein selbstständiges Leben der Einwohner und Gäste zu ermöglichen. Corona hat leider die Treffen sehr zurückgedrängt und erst auf meinen Wunsch hin, sich doch hin und wieder wenigstens online zu treffen, kommen nun diese Onlinetreffen, wenn auch leider in sehr unregelmäßigen Abständen, wieder zustande. So kommt es nicht zu einem allzu großen Stillstand durch Corona, und die Menschen in Erfurt können weiterhin darauf vertrauen, dass wir uns für die Belange von Menschen mit Behinderungen einsetzen.“

    In Braunschweig wird der Behindertenbeirat in viele Entscheidungsprozesse schon mit einbezogen und sitzt auch beratend mit in einigen, aber noch nicht allen Ausschüssen.

    Ein Negativbeispiel aber ist Hamburg. 13 Jahre nach Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention kam es nun erst zur Gründung eines ersten solchen Beirates in Hamburg [2].

    „Reichlich spät!“ –

    findet Florian Lancker, Themenbeauftragter Inklusion der Piratenpartei Deutschland.

    Dieses Bild ist eine Schmach für die Belange von Menschen mit Behinderung. Bedauerlicherweise wurden auch viele andere Punkte der UN-Behindertenrechtskonvention nicht umgesetzt.“

    Behindertenbeiräte müssen unseres Erachtens überall mit einbezogen werden, frühzeitig in Planungsphasen, und nicht nur beratend oder im Nachhinein mit ins Boot geholt werden. Leider passiert dies noch nicht in jeder Stadt „so gut“ wie z. B. in Erfurt oder Braunschweig, wobei auch hier noch Nachbesserungsbedarf besteht, denn Behindertenbeiräte und ihre Aufgabenbereiche sind Angelegenheiten der Kommunen.

    Unsere Forderungen daher:

    • Behindertenbeiräte in jedes politische Gremium
    • Stärkung der Rechte von Behindertenbeiräten
    • Einbezug, Mitsprache und Vetorecht von Behindertenbeiräten in jeder politischen Entscheidung
    • Konsequente Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention
    • einheitliche Rechte und Pflichten für Behindertenbeiräte

    Quellen:
    [1] Wikilink
    [2] Senatsempfang Hamburg

  • Irans Proteste gegen die Revolutionsgarden – Eine Einschätzung

    Irans Proteste gegen die Revolutionsgarden – Eine Einschätzung

    Nach dem Abschuss des ukrainischen Passagierflugzeugs am 08. Januar durch die iranischen Revolutionsgarden hat sich die Lage im Iran verschärft. Auch die iranische Mittelschicht, bisher Faktor für die Resilienz und Stabilität des Status Quo im Iran, schließt sich nun den Protesten gegen die Regierung an. Die Erinnerungen an den Putsch von 1953, der Revolution von 1979 und die damit verbundene Angst hatte sie bislang abgehalten. Zusätzliche Dynamik entsteht durch die schwere Erkrankung des obersten iranischen Führers Ali Chamenei. Bereits Anfang 2019 wurde in Erwartung einer Abdankung des Revolutionsführers ein radikaler Politikwechsel im iranischen Fernsehen angekündigt. Man wollte tiefgreifende politische Reformen im Iran in Angriff nehmen. Laut Veröffentlichung von Depeschen US-amerikanischer Botschaften durch Wikileaks soll Chamenei an Leukämie erkrankt sein.

    Weitgehende Reformen und ein Wechseln in der Führung bedrohen allerdings die ökonomische Macht der iranischen Revolutionsgarden. Diese konnten sich, begünstigt durch die Sanktionen und die schlechte wirtschaftliche Lage, zu einem Staat im Staate entwickeln. Hätte Donald Trump sich nach der Aufkündigung des Iran Deals zu einem „Regime Change“-Versuch entschlossen, hätte es den Rovolutiongarden eher genützt und sie hätten wohl auch nominell die Macht im Iran an sich ziehen können.

    Der Druck von außen

    Man kann zusammenfassen: Druck von außen stärkt das Regime. Dies zeigt auch die Entwicklung nach der Tötung des Generals der Quods Forces Qasem Soleimani durch einen Angriff der USA am 02. Januar und der Ankündigung bei einer asymmetrischen Vergeltung durch den Iran, 53 wichtige und historische Stätten im Iran anzugreifen. Dies führte dazu, dass sich viele Iraner, bedingt durch die starke Verbindung zu ihrer Geschichte und Kultur, zunächst hinter der Regierung versammelten. Das Regime versuchte, den Angriff auf Quasem Soleimani und die Inszenierung des Trauerzuges für sich zu nutzen. Insbesondere die Revolutionsgarden wollten sich durch die amerikanische „Unterstützung“ in eine stärkeren Position für den kommenden inneriranischen Machtkampf um den politischen Kurs des Landes bringen. Sie hofften, sich eine dominierende Rolle auch gegenüber der geistlichen Führung zu erkämpfen und die Politik des Landes nach dem Tod von Chamenei zu bestimmen.
    Durch den versehentlichen Abschuss des Fluges 752 von Ukraine International Airlines als Folge der von den iranischen Revolutionsgarden angekündigten Vergeltung wandelte sich die öffentliche Stimmung im Land schlagartig.

    Die Proteste

    Der Abschuss und die aktuellen Proteste im Iran sind nun für die iranische Regierung ein Problem. Sie sieht sich innen- und außenpolitisch geschwächt, was eine Gefahr für die Region darstellt. Sollte sich die Situation fortsetzen und der Iran analog zu anderen Staaten in diesem Gebiet, durch eine Eskalation der Lage in einen Bürgerkrieg oder zumindest eine längere Phase der politischen Instabilität abgleiten, wäre das für die Region eine Katastrophe. Die Großmächte, wie auch die Menschen im Iran selbst, sind an einem Abgleiten des Irans in eine unkontrollierte Revolution nicht interessiert. Man möchte eine weitere Destabilisierung der Region und deren Konsequenzen für alle in einem schon instabilen Nahen Osten verhindern.
    Da eine Einmischung von außen immer zu einer Stärkung des Regimes im Iran führt, waren die Reaktionen der US Regierung wie auch der Israelis entsprechend zurückhaltend. Aufgrund der historischen Erfahrungen der Iraner mit dem Putsch der CIA 1953 gegen die gewählte iranische Regierung versuchte man möglichst den Eindruck zu vermeiden, man wäre involviert, damit die Proteste von der iranischen Regierung nicht als vom Ausland gesteuert gebrandmarkt werden konnten.

    Trotz dieser Erfahrungen wird es am Ende zu einem Regimewechsel und einer Transition der Macht im Iran kommen. Ein politischer Wechsel im Iran würde der politischen Tradition des Landes entsprechen. Spätestens seit der Safawiden Dynastie, welche von 1501-1736 regierte und den modernen Iran begründete, wurden die verschiedenen Machtgruppen im Land in die Herrschaft einbezogen. Es kam immer zu einem Ausgleich und einer Balance der verschiedenen Interessensgruppen im Land sowie deren Machtzentren. Schaffte dies eine Regierung nicht, wie zuletzt beim Schah im Vorfeld der Revolution von 1979, war ein Ende der Regierung besiegelt.

    Der Wechsel

    Im Iran gibt es einen starken Bezug zur eigenen Kultur und historischen Größe. Der iranische Nationalismus ist deshalb auch während der islamischen Republik nicht verschwunden. Ebenso sind die historischen geopolitischen Grenzen und Probleme des Irans, welche es auch schon zu Zeiten des Schah gab, immer noch gegeben.
    Dass Ali Chamenei seinen potentiellen politischen Nachfolgern mitgab, im Fall der Fälle die Alliierten, mit denen man seit jeher gemeinsame Interessen teilt, weiterhin zu unterstützen, wird dafür sorgen, dass der Iran seine Außenpolitik nur wenig verändern wird, denn die außenpolitischen Herausforderungen des Irans sind, egal welche Regierung im Iran ist, immer dieselben. Ein Beispiel ist der Grenzstreit mit dem Irak, der, nachdem er zu Zeiten des Schah gelöst schien, direkt nach der Revolution von 1979 zu einem Krieg zwischen beiden Staaten von 1980-1988 führte.
    Die Narben dieses Krieges sind in der iranischen Gesellschaft, egal welcher politischen Ausrichtung man im Land anhängt, noch sehr lebendig.

    Der Iran und Israel hatten zu Zeiten des Schah und seiner nationalistischen Agenda eine sehr enge politische und sicherheitspolitische Beziehung. Auch sind Iraner und Israelis in ihrer langen gemeinsamen Geschichte immer als Partner aufgetreten. Der Schah hatte zur NS-Zeit starke Aversionen gegen die Nazis und der iranische Nationalismus hat eine eher starke Gegnerschaft zu den antiiranischen Nachbarn, während ihm der Antisemitismus historisch fremd ist.

    Ein politischer Wechsel im Iran würde wahrscheinlich die sicherheitspolitischen Handlungsmöglichkeiten erweitern. Der Iran könnte seinen durch den im syrischen Bürgerkrieg gewonnenen Einfluss nutzen und sich mit den erweiterten geostrategischen Möglichkeiten sowie dem Wegbrechen der alten Konflikte ganz anders aufstellen.
    Bei einem sich abzeichnenden Wechsel der iranischen Führung, hin zu einer nationalistisch geprägten Ausrichtung, würde es auch wieder eine engere Kooperation zwischen den schiitisch dominierten Kräften und Israel geben. Diese würden sich einer von Saudi-Arabien geführten Allianz gegenübersehen sowie einer Türkei unter Erdogan mit dessen Ambitionen im Mittelmeer, welche gegen Israel aber auch Griechenland gerichtet sind.

  • Zypern oder „The Great Game“ im östlichen Mittelmeer

    Zypern oder „The Great Game“ im östlichen Mittelmeer

    Wenn man sich das östliche Mittelmeer auf einer Karte anschaut, fällt einem die Insel sofort ins Auge. Sie liegt im Nordosten des östlichen Mittelmeers, auch Levantisches Meer genannt. Seit alters her war das Gebiet umkämpft, und besonders gegenwärtig wird diese Region und speziell Zypern wieder interessant für das „Great Game“ von Großmächten. Mächten, die gerne Großmacht werden wollen bzw. sich dafür halten.
    Betrachtet man die Landkarte, gibt es eine Reihe von Anrainerstaaten am Levantischen Meer. Im Nordwesten griechische Inseln wie Kreta, Rhodos usw., im Norden die Türkei, im Osten Syrien und den Libanon, im Südosten Israel, der Gazastreifen, im Süden Ägypten und südwestlich Libyen. Bereits die ersten menschlichen Hochkulturen haben dieses Seegebiet für den Warentransport und kulturellen Austausch genutzt. Auch heute noch verlaufen wichtige Handelsrouten durch dieses Seegebiet, vom Bosporus zum Suezkanal und zur Straße von Gibraltar. An solch prominenter und strategisch günstiger Position gelegen verwundert es nicht, dass Zypern im Verlauf der Geschichte immer wieder den Besitzer wechselte, darunter auch die Briten, die die Insel 1878 vom Osmanischen Reich pachteten und sie mit Eintritt des Osmanischen Reiches in den 1. Weltkrieg komplett annektierten. Mit Inkrafttreten des Vertrages von Lausanne wurde Zypern 1925 britische Kronkolonie

    Der Zypernkonflikt

    Bei so vielen Beteiligten, einer solchen strategischen Lage und einer so wechselhaften Geschichte scheint es nur konsequent, dass es auch heute Unstimmigkeiten auf und um Zypern gibt. Diese sind als „Zypernkonflikt“ bekannt. Wie schon erwähnt, wurde Zypern seit 1878 von Großbritannien kontrolliert, Unabhängigkeitsbestrebungen Anfang der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts wurden niedergeschlagen. Es kam zu weiteren Aufständen, die dann 1960 zur Unabhängigkeit Zyperns führten.
    Nach der Unabhängigkeit kam es zu Spannungen zwischen der griechischen Bevölkerungsmehrheit, die auf eine Vereinigung mit Griechenland hinarbeitete und der türkischen Minderheit, so dass 1964 eine UN Friedenstruppe auf Zypern stationiert wurde. Ziel der Friedenstruppe war es, eine weitere Eskalation zu verhindern. Dies gelang nicht und gipfelte 1974 in einem Putsch griechischer Nationalisten, die den Anschluss an Griechenland durchsetzen wollten. Die Türkei nahm dies zum Anlass, um in Zypern militärisch zu intervenieren und besetzte den Nordteil der Insel.
    Diese Besetzung wurde durch die UNO verurteilt, die Türkei zum Abzug der Truppen aufgefordert und die territoriale Integrität Zyperns durch die UNO festgeschrieben. Seit einem Waffenstillstandsabkommen ist die Insel de facto in einen türkischen und einen griechischen Teil gespalten, mit einer von der UNO überwachten Pufferzone. Nach einem Versuch, den Konflikt zu lösen und eine friedliche Wiedervereinigung herbeizuführen, der an einem negativ verlaufenden Volksentscheid scheiterte, trat die Republik Zypern in die EU ein. Die im Nordteil 1983 proklamierte, aber international nicht anerkannte Türkische Republik Nordzypern ist somit eine „eingefrorene Konfliktzone“.

    Aktuell stellt sich die Situation somit wie folgt dar:

    • Die Republik Zypern ist Mitgliedsland der EU
    • Der Nordteil Zyperns ist völkerrechtlich auch Teil der EU, da die staatliche Integrität Zyperns von der UNO bestätigt wurde, faktisch ist der Norden Zyperns allerdings von der Türkei besetzt.
    • Nordzypern als eigenständiger Staat ist nur von der Türkei anerkannt
    • Türkische Truppen besetzen noch immer den Nordteil Zyperns
    • Zwei größere britische Militärbasen befinden sich auf Zypern (britisches Hoheitsgebiet)

    Der Gasrausch im Levantischen Meer

    U.S. Energy Information Administration (EIA)

    Zu der bisher schon sehr vertrackten Situation kommt zusätzlich noch die Entdeckung reichhaltiger Erdgasvorkommen südlich von Zypern.
    Seit der Entdeckung mehrerer großer Gasfelder ab dem Jahr 2010, wie beispielsweise dem Leviatan Gasfeld in von Israel beanspruchtem Seegebiet oder dem Zohr Gasfeld in ägyptischen Hoheitsgewässern, das 2015 entdeckt worden ist und das mit 840 Mrd. m³ das größte bisher entdeckte Gasfeld im Mittelmeer darstellt, versucht jedes Anrainerland des östlichen Mittelmeers Claims abzusteckend und die Kontrolle über die Transportwege zu erlangen.
    Israel und Zypern einigten sich 2017 auf eine Abgrenzung der Wirtschaftszonen. Bohrkonzessionen wurden daraufhin an koreanische, italienische und französische Konzerne vergeben. Auch zwischen Israel und Ägypten besteht eine Einigung bezüglich der Wirtschaftszonen und der darin gelegenen Gasvorkommen.
    Obwohl die bisher bestätigten Gasvorkommen südlich von Zypern liegen, erhebt auch die Türkei umfangreiche Ansprüche an diesen.
    Zusammenfassend kann man also einen Gasrausch im östlichen Mittelmeer attestieren.

    Transportwege

    Wie schon angesprochen ist die Region von hoher geostrategischer Bedeutung und Zypern nimmt dabei eine herausragende Position ein. Ähnlich wie von der Krim aus über das Schwarze Meer kann man von Zypern aus die gesamte Region und alle Verbindungen im östlichen Mittelmeer kontrollieren. Die Gesamtregion bildete vor den Entdeckungen von Kolumbus den Verkehrsknotenpunkt im Handel zwischen Europa und Asien. Nachdem die gesamte levantinische Küste bis Ägypten (bis 1520) vollständig unter osmanische Herrschaft gekommen war, wurde der Handel mit Asien dann komplett von den Osmanen kontrolliert, europäische Händler durften die Region nicht mehr durchreisen. Dieser Umstand führte dazu, dass man von Europa aus nach alternativen Handelsrouten nach Asien über eine westliche Route und um Afrika herum suchte und dabei Amerika entdeckte.

    Heute ist die Region nicht nur bezüglich der klassischen Handelswege und wegen der dort befindlichen Energierohstoffe für ein „Great Game“ von Bedeutung, sondern auch wegen der Transportwege für diese Rohstoffe. Europa und insbesondere Deutschland werden vor allem mit Gas aus Russland und der Nordsee beliefert, auch die USA wollen ihr durch Fracking gewonnenes Erdgas als Flüssiggas (LNG – Liquid Natural Gas) nach Europa liefern. Der einzige andere in Frage kommende Lieferant, der auch Russland aufgrund seiner riesigen Vorkommen ersetzen könnte, wäre der Iran. Allerdings ist der Flüssiggastransport per Schiff gegenüber einer Pipeline (CNG – Compressed Natural Gas) vergleichsweise teuer und Pipelines (bis 6.000km) sind energetisch wesentlich effektiver, da das Gas nicht erst verflüssigt werden muss. Der Energiebedarf für die Verflüssigung beträgt ca. 15% des Energieinhaltes des Gases. Die heute bereits in Planung befindliche Leitungsinfrastruktur über Zypern nach Griechenland und weiter nach Europa könnte man später über eine Erweiterung durch Syrien oder Israel und Jordanien in den Irak und weiter in den Iran ausbauen. Dies ist bei der aktuellen Lage in der Region derzeit nicht möglich, liegt aber auch daran, dass einige „Player“ ihre eigenen Interessen verfolgen und noch um die Kontrolle der Region kämpfen. Insbesondere die Türkei und Russland wollen die Ost-West Verbindungen kontrollieren, so wie früher das osmanische Reich in deren Tradition sich zumindest die Türkei heute sieht.
    Dieser Anspruch wird durch das am 2 Januar 2020 von Israel, Zypern und Griechenland unterzeichnete Abkommen für die EastMed Pipeline, die über Zypern nach Kreta und Griechenland und von dort weiter nach Italien verlaufen soll, gefährdet.

    Die Türkei „Situation“

    Mit Erdogan an der Spitze erhebt die Türkei einen Großmachtanspruch und versucht diesen auch durchsetzen. Das wird auch nicht nur im Geheimen gedacht, sondern sehr öffentlich kommuniziert. Beispielsweise werden im AKP Umfeld Karten einer Großtürkei die neben Nordsyrien, dem Nordirak, Armenien, einigen griechischen Inseln wie Rhodos, griechisch Makedonien sowie Teilen von Bulgarien und Georgien auch Armenien und auch Syrien komplett umfasst, gezeigt.
    Im Norden Syriens arbeitet die Türkei im Moment mit einer „Schutzzone“ in der man aus „humanitären“ Gründen syrische Flüchtlinge in Gebieten ansiedeln will, in denen die Kurden die Bevölkerungsmehrheit stellen. Auch im Irak betreibt die Türkei militärische Basen. Sie will den Rückzug der USA aus der Region nutzen, um einen weiteren Schritt hin zu einer Großtürkei oder einem neuen osmanischen Reich zu gehen. Natürlich sind die Nachbarn der Türkei wenig begeistert über diese Ambitionen, nicht umsonst wurde in Griechenland auch während der Finanzkrise nie Hand an den Verteidigungshaushalt gelegt. Dieser liegt auch nach dem Kalten Krieg immer über dem 2 %-Ziel der NATO.
    Wenn wir uns den eingefrorenen Zypernkonflikt vergegenwärtigen, den „Gasrausch“ sowie eine inzwischen sehr aggressive türkische Außenpolitik, verwundert es kaum, dass die Türkei Ansprüche an die Gasvorkommen um Zypern herum geltend macht. Beispielsweise warnte Erdogan Anfang 2018 in einer Rede vor AKP Abgeordneten:vor „Opportunistische Versuche der Erdgasförderung vor Zypern und den ägäischen Inseln entgehen unserer Wahrnehmung nicht“. Mahnend fügt er hinzu: „Wir warnen die, die mit Fehlschlüssen auf Zypern und in der Ägäis aus der Reihe tanzen“.
    Dem lässt er natürlich auch Taten folgen. So setzen die türkische Marine und Küstenwache Blockaden gegen Explorations- und Bohrschiffe der Vertragspartner Zyperns durch und seit Anfang 2019 operieren türkische Explorations- und Bohrschiffe unter dem Schutz von türkischen Kriegs- und Küstenwachschiffen in den Hoheitsgebieten und der Wirtschaftszone von Zypern.
    Zuletzt wurde ein israelisches Forschungsschiff von der türkischen Marine gezwungen, zypriotische Gewässer zu verlassen, während türkische Bohr- und Forschungsschiffe südlich von Zypern weiter aktiv sind. Daraufhin kündigte Israel eine Militärübung im östlichen Mittelmeer an.
    Auch der griechische Außenminister Nikos Dendias antwortete vielsagend: „Griechenland ist ein europäisches Land, die Türkei wird uns nicht auf das Niveau des Balkanstreits bringen. Wir haben allen klar gemacht, dass wir unsere Souveränität im Rahmen unserer verfassungsmäßigen Rechte schützen werden. Bei Bedarf könnten wir alleine antworten, aber wir werden nicht allein sein“.
    Inzwischen hat die türkische Führung eine neue Eskalationsstufe im Konflikt eingeläutet und blickt auf Nordafrika.

    „Türkisch Afrika“

    Wenn man die Karte der aktuellen Konfliktregion betrachtet, in deren „Zentrum“ Zypern liegt, findet man südwestlich von Zypern Libyen, genauer die Region Kyrenaika, eine der beiden bevölkerungsreichsten Regionen Libyens. Wer ein Neoosmanisches Reich errichten will, muss natürlich jede sich bietende Gelegenheit nutzen, um sich entscheidende geopolitische Vorteile in der beanspruchten Region zu verschaffen..
    Der „arabische Frühling“ führte in Libyen 2011 zum Sturz Gaddafis. Seitdem wird das libysche Staatsgebiet von mehreren Warlords regiert. Die beiden größten (Warlord) Fraktionen gibt es im Westen in Tripolitanien und im Osten in Kyrenaika. Die Warlords in Tripolitanien werden international im allgemeinen als Regierung anerkannt. Auch europäische und amerikanische Einheiten sind hier stationiert, da es immer noch kleinere Danesch (IS)-Widerstandsnester gibt – und die weltweit qualitativ hochwertigsten Ölvorkommen. Der Osten, in dem die Freie Libysche Armee aktiv ist, hat Rebellenstatus und wird von den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi-Arabien und Ägypten unterstützt. Neuerdings sind auch russische Soldaten unterstützend beteiligt und die Frontlinie vor Tripolis verschiebt sich zu Gunsten der ostlibyschen „Rebellen“.
    Die türkische Regierung hat die sich bietende Gelegenheit erkannt und mit der „Regierung“ Libyens im Westen ein Abkommen zur Ausbeutung von Erdgasvorkommen vor Kreta im Mittelmeer getroffen, eine gemeinsame Seegrenze definiert und das Seegebiet des östlichen Mittelmeers zwischen der Türkei und Libyen faktisch unter sich aufgeteilt. Zudem wurden Stützpunktrechte für die türkische Marine in Libyen vereinbart, eine wichtige Voraussetzung für die effektive Kontrolle des östlichen Mittelmeers.
    Ankara beansprucht jetzt gemeinsam mit Tripolis das Seegebiet zwischen beiden Ländern und würde damit auch den See- und Luftweg zwischen Zypern und Griechenland sowie den Zugang zum Suezkanal, Ägypten, Israel und dem Libanon kontrollieren. Das Abkommen wird von allen anderen Anrainerstaaten und der EU scharf verurteilt.
    Im Gegenzug für das für sie sehr vorteilhafte Abkommen sichert die Türkei der libyschen „Regierung“ zusätzlich zur Beteiligung an der Ausbeutung der Erdgasfelder vor Kreta die Entsendung von Truppen und militärischer Ausrüstung zu, um aktiv in den Konflikt einzugreifen und die „Regierung“ an der Macht zu halten. Die Entsendung türkischer Truppen nach Libyen ist bereits angelaufen, woraufhin die „Rebellen“ bereits mit Angriffen auf die türkischen Militärtransporte gedroht haben .

    In dieser Situation offenbart sich nun das Dilemma der europäischen Außenpolitik.
    Italien steht auf Seiten der libyschen „Regierung“ wohingegen Frankreich, Griechenland und Zypern auf der Seite der Rebellen stehen.
    So wurde der Rebellenchef Haftar unmittelbar nach Abschluss des Abkommens zwischen Erdogan und der libyschen Führung zu Gesprächen nach Griechenland eingeladen.
    Derzeit rüstet Ankara seine Marine stark auf und modernisiert sie, um seine wachsenden Ansprüche im Mittelmeer glaubhaft mit Präsenz und Blockaden durchsetzen zu können. Bei Marinetechnik ist die Türkei derzeit noch stark von ausländischen Zulieferern, allen voran Deutschland, abhängig. Da man Schiffe und seegestützte Waffensysteme nicht gegen die Kurden einsetzen kann, gibt es in Deutschland kaum Widerspruch gegen die Lieferung von Kriegsschiffen und Ausrüstung an die Türkei. Dabei wird offenbar vollkommen verkannt, dass sich diese Systeme ganz besonders für den Einsatz gegen die israelischen, griechischen, ägyptischen, zypriotischen, französischen und italienischen „Rohstoffliebhaber“ im Wettlauf um die Gasvorkommen eignen.
    Das libysch-türkische Abkommen bezüglich der Rohstoffausbeutung vor Kreta hat aber noch eine andere Auswirkung. Der Bau der von Griechenland, Zypern, Israel, den USA und Ägypten geplante Bau der EastMed Erdgaspipeline von Ägypten und Israel über Zypern nach Griechenland zu den europäischen Endverbrauchern wird zusätzlich erschwert und könnte von der Türkei ganz verhindert werden

    Zyperns Sicherheitsarchitektur

    Im bisherigen Text wurde der Konflikt um das Erdgas im Ostmittelmeerraum und die bisherigen türkischen Aktionen, die offensichtlich das Ziel verfolgen, sich ein sehr großes Stück vom „Gaskuchen“ abzuschneiden, aufgezeigt. Auf die Ambitionen der Türkei, sich zur neoosmanischen Großmacht aufzuschwingen, sowie die bisherige Entwicklung des Zypern-Konflikts wurde ebenfalls eingegangen. Daraus und wegen seiner zentralen Lage wird eine akute Bedrohung der ohnehin schon durch die Besetzung Nord-Zyperns stark eingeschränkten Souveränität Zyperns deutlich erkennbar.
    Um die Möglichkeiten der Republik Zypern, gegen das aggressive Auftreten der Türkei bestehen zu können, abschätzen zu können, werfen wir zunächst einen Blick auf die Position der Türkei.
    Die Türkei ist NATO-Mitglied, Zypern ist es nicht. Die Türkei verfügt über das zweitgrößte Militär in der NATO, wobei dieses durch die Säuberungsaktionen der Erdogan Ära deutlich geschwächt wurde. Darüber hinaus versteht es die Türkei, so zynisch es klingen mag, die durch die Konflikte in der Region anhaltende Flüchtlingssituation in ihrem Sinn als Druckmittel gegen die EU zu nutzen.
    Dazu kommt eine in einigen europäischen Ländern große türkische Minderheiten, die teilweise gut über die vom türkischen Religionsministerium unterstützten und gesteuerten religiösen Vereinigungen (wie z.B. DiTiB e.V. in Deutschland) organisiert werden können.
    Gleichzeitig nutzt die Türkei die Stellung als NATO-Partner als auch seine strategische Wichtigkeit, um „die Verbündeten“ in der NATO ruhig zu halten und sich gleichzeitig immer mehr zu emanzipieren und bessere Kontakte mit den Wettbewerbern in der Region aufzubauen. Neben der Position als Dialogpartner der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit versucht die Türkei sich auch in der Waffenproduktion selbstständig zu machen, entwickelt Kampfpanzer auf Grundlage eines südkoreanischen Modells, versucht sich in der Entwicklung eigener Flugzeuge und Drohnen und kauft moderne russische Luftabwehrsysteme (u.a. S-400).
    Zudem liebäugelt man in Ankara auch mit dem Aufbau nuklearer Kapazitäten, die nicht nur den mit russischer Hilfe im Bau befindlichen Atomreaktor an der türkischen Südküste betreffen, denn eine Großmacht die etwas auf sich hält, wie die türkische, braucht auch eigene Atomwaffen, wenn US Amerikaner samt ihrer Atomwaffen die Basen in der Türkei räumen würden.
    Die Strategie der Republik Zyperns besteht daher in der Kooperation mit anderen Staaten, die gemeinsame Interessen haben und Sicherheit bieten können, vorneweg auf Grund sprachlicher, historischer und kultureller Nähe zu Griechenland, das wie auch die Türkei NATO-Mitglied ist und über einen aus „Sicherheitsgründen“ erhöhten Militärhaushalt verfügt.
    Zum anderen bestehen Kooperationsvereinbarungen mit Israel, Frankreich und es gibt zwei große Stützpunkte der ehemaligen Kolonialmacht Großbritannien sowie US Einrichtungen auf der Insel, aus „energiestrategischen“ Gründen kommt auch noch Ägypten als Kooperationspartner hinzu. Auch zwischen Russland und Zypern bestehen tiefe Beziehungen.
    Bezüglich militärischer Beistandsverpflichtungen lohnt sich auch ein Blick in den Lissabon Vertrag. Artikel 42 Absatz 7 lautet: „Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung“ Diese Beistandsverpflichtung ist erheblich stärker als die in Artikel 5 des Nordatlantikvertrages der NATO, nach dem überspitzt auch eine strenge Verurteilung in Schriftform genügen würde.
    Dies würde bedeuten, dass bei einer Verletzung des zyprischen Hoheitsgebiets (oder bei zufälligem Beschuss) eine europäische Antwort folgen müsste. Nach den Anschlägen in Paris hat sich Frankreich exakt darauf berufen und dies von den europäischen Partnern eingefordert.

    Zusammenfassung

    Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das südöstliche Mittelmeer einem Pulverfass gleicht, in dessen Zentrum Zypern liegt. Einzelne EU Staaten arbeiten teilweise gegeneinander und lassen sich so gegeneinander ausspielen. Die EU muss eine vorausschauende, robuste und gemeinschaftliche Vorgehensweise definieren und die Herausforderungen annehmen. Dies würde nicht nur die Stabilität an der Südflanke der EU sichern, sondern sich langfristig auch stabilisierend auf den südöstlichen und südlichen Mittelmeerraum auswirken.

    ergänzt durch Autor am 05.01.2020

  • Ist Hongkong zu fortschrittlich für China?

    Ist Hongkong zu fortschrittlich für China?

    Unsere Arbeitsgemeinschaft Außen- und Sicherheitspolitik beschäftigt sich in einer Artikelreihe mit China, um die strategischen Zielsetzungen wie auch die innere Verfasstheit Chinas aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Als aufstrebende Supermacht und Gegenstück der westlichen Welt, bestehend aus den „römischen“ (Ost und Westrom) Nachfolgestaaten und Staatenbünden wie beispielsweise der Europäischen Union, Russland und den USA hat dieses Land eine ganz eigene kulturelle Verfasstheit.

    Seit der Krise der Qing Dynastie (1616-1911), die den Verlust der Stellung als Zentrum und Hegemon in Ostasien zur Folge hatte und der damit einhergehenden zunehmenden Einflussnahme und Kolonialisierung durch europäische Staaten in der Region, hat China wiederholt mit westlichen Ideen und politischen Systemen experimentiert – sowohl während der Kolonialzeit, als auch nach der Kulturrevolution.
    Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs gewannen die westlichen Ideen des Marxismus wie auch des Nationalismus viele Anhänger in China. Man versuchte, China möglichst schnell zu modernisieren und benutzte die Ideologien als politische „Vehikel“.
    Deng Xiaoping hatte in Frankreich studiert, nahm die Ideen – insbesondere den Marxismus-Leninismus – mit nach China und versuchte sie umzusetzen. Diese Erfahrungen und Experimente Chinas mit westlichen Staatsideen hat Guido Mühlemann in seiner rechtswissenschaftlichen Dissertation beschrieben. Dabei kann man festhalten, dass bei Veränderungen „Harmonie“ zur Vermeidung von Konflikten die bestimmende Konstante der chinesischen Philosophie und Politik ist.

    Mehr als ein Drittel aller Menschen

    (Rechts-)Historisch ist dies vor allem dem Umstand geschuldet, dass China seit der ersten chinesischen Vereinigung im 3. Jahrhundert v. d. Z. als größter und wohlhabendster Staat der Erde über lange Zeit der Menschheitsgeschichte, immer darauf angewiesen war, große Mengen von Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen in einem Kaiserreich zu vereinen. Soziale und politische Konflikte sollten möglichst ohne Gewalt gelöst werden. Die mehr als 2000-jährige Geschichte des Landes haben Machthaber wie auch Bevölkerung bis ins 20. Jahrhundert geprägt. Wenn es nicht gelang, soziale Unruhen zu vermeiden, litt China unter Kriegen wie bei der „An Lushan Rebellion“ gegen die Tang Dynastie von 755 bis 763 n. d. Z., welche nach heutigen Auswertungen der Quellen etwa 13 Millionen Tote zur Folge hatte. Das waren etwa 5% der damaligen Weltbevölkerung. Solche Ereignisse destabilisierten die chinesische Gesellschaft immer wieder stark, dennoch stellte China im Jahr 1820 mit geschätzten 381 Millionen Einwohnern etwa 36% der Gesamtbevölkerung.

    Die gescheiterte Kulturrevolution

    Trotzdem ist die Geschichte Chinas durchzogen von Aufständen und Bürgerkriegen, die durch religiöse und politische Bewegungen ausgelöst wurden. Die immer starke Position der chinesischen Führung hegt daher grundsätzlich starkes Misstrauen gegenüber solchen Einflüssen, auch weil sich diese im konfuzianischen Geist nicht mit der zentralen Staatsphilosophie harmonisieren lassen.
    Seit dem 19. Jahrhundert sah sich China in einer Krise, aus der das Land unter Mao ab 1958 mit dem „Großen Sprung nach vorne“ schnell und ohne Verluste durch „Modernisierung“ herausgeführt werden sollte. Die Modernisierungskampagne wurde jedoch unvollständig geplant und überhastet eingeleitet. In Folge hatte die Kommunistische Partei in den ersten drei Jahren 15 bis 45 Millionen Tote zu verantworten und es kam zu landesweiten Aufständen so dass nach dem offensichtlichen Scheitern und den verheerenden Folgen für die Bevölkerung dieser Versuch 1961 abgebrochen wurde.

    Chinas Demokratieexperimente

    Mit der Abkehr vom Terror der Kulturrevolution und dem Ende der Ära Mao blieb die Notwendigkeit, das Land zu modernisieren, bestehen. Man setzte von nun an darauf, das Land harmonisch zu reformieren, erst auf ökonomischem Gebiet durch sukzessive Einführung der freien Marktwirtschaft und im nächsten Schritt dann auch politisch, ohne dabei zu starke Fliehkräfte zuzulassen, welche die Einheit des chinesischen Staates gefährden könnten.
    Im Jahr 2001 startete man in Hoshi im äußersten Nordosten Chinas, ähnlich wie man es 23 Jahre zuvor bei der Einführung des freien Marktes in China gemacht hatte, ein lokal begrenztes Experiment, um auf kleiner Ebene demokratische Elemente und deren Auswirkungen auf Politik und Stabilität zu testen. 2009 hat der chinesische Botschafter in einem Interview mit der Zeitung „die Welt“ diese Denkweise und Methode erläutert und dabei ohne Ironie angemerkt, dass man in China mit der Demokratie experimentiere und nun in der Millionenstadt Nanking einen nächsten Laborversuch eingeführt habe.
    2016 hat China mit der Selbsternennung unter Xi Jinping zur „weltweit größten Demokratie“ zudem den Anspruch verbunden, dass sein politisches System nicht nur ein weiteres und für ­China passenderes demokratisches System, sondern im Vergleich zu Indien, das im Westen als größte Demokratie gilt, dank vielfältiger Beteiligungsmechanismen sowohl die „wahrere“ als auch die wirtschaftlich erfolgreichere ­Demokratie sei.

    Die Angst vor Hongkong

    Durch die Abschottung von China und starke westliche Einflüsse während 150 Jahren britischer Kolonialzeit verlief in Hongkong eine ganz andere politische und soziale Entwicklung als im Rest von China. In Folge entwickelten sich auch die Traditionen auseinander. Um im Sinn der Harmonie Konflikte zu vermeiden, hatte man daher 1997 bei der Rückübertragung Hongkongs an China die Parole „Ein Land – Zwei Systeme“ ausgegeben, welche ihre Wurzeln in der chinesischen Philosophie hat und Hongkong weitgehende Autonomität mit einem demokratisch-marktwirtschaftlichem System zusichert. Dies wurde vertraglich festgeschrieben, als Sonderverwaltungszone Chinas umgesetzt und sollte für 50 Jahre bis 2047 gelten.
    Im eher westlich geprägten Hongkong bestehen völlig andere Ansprüche und Forderungen an politische Partizipation der Bevölkerung, insbesondere bei der jüngeren Generation. Historische Angst davor, dass die Entwicklung der politischen Reform in China durch besondere Zugeständnisse in Hongkong außer Kontrolle geraten könnte, veranlassten die chinesische Regierung daher ab 2014, in die Autonomie Hongkongs einzugreifen und mit brutaler Härte gegen Proteste der Zivilgesellschaft vorzugehen.
    Die chinesische Bevölkerung außerhalb der Sonderverwaltungszonen begegnet den Protesten in der Stadt mit Unverständnis. Dabei sehen selbst junge und gut gebildete Chinesen die Bevölkerung von Hongkong, welche im Gegensatz zu dem Rest des Landes viele politische Freiheiten besitzt, als „verwöhnt“ an. Die Demonstrationen in der Sonderverwaltungszone und das Werben der Protestierenden um westliche Aufmerksamkeit und Unterstützung sehen sie als Gefahr für den Weg der langsamen und kontinuierlichen Liberalisierung im ganzen Land.

    Die Kritik der chinesischen Regierung am Besuch des Hongkonger Aktivisten Joshua Wong in Berlin und an der breiten Beachtung, die das Thema bei deutschen Politikern und Medien findet, ist Ausdruck der Furcht davor, dass das „Experiment Hongkong“ schnell außer Kontrolle geraten und negative Auswirkungen auf die Entwicklung innerhalb Chinas und die Beziehungen zu Deutschland haben könnte.
    Die chinesische Führung ist übereilten Experimenten der Modernisierung und Änderung ohne verlässliche Abschätzung der Folgen gegenüber aus historischen Gründen sehr skeptisch eingestellt, wobei das Trauma der gescheiterten Kulturrevolution schwer wiegt.