Schlagwort: Russland

  • Nord Stream – Die Isolation Deutschlands durch unverantwortliche Außen- und Sicherheitspolitik

    Nord Stream – Die Isolation Deutschlands durch unverantwortliche Außen- und Sicherheitspolitik

    Ein Beitrag von Alex Kohler, Themenbeauftragter Außenpolitik

    Das Ziel Deutschlands in seiner Außen- und Sicherheitspolitik sollte es in erster Linie sein, die Zusammenarbeit in diesem Bereich in Europa zu fördern und gemeinsame europäische Sicherheitsinteressen zu verfolgen. Das bedingt auch, Rücksicht auf seine EU-Partner zu nehmen. Vollmundig wird besonders bei der SPD und im SPD-geführten Außenministerium eine gemeinsame europäische Außenpolitik propagiert, das exakte Gegenteil wird hier jedoch betrieben. Wie auch in anderen Bereichen, in denen Resilienz gefragt ist [1] , wie dem Katastrophenschutz oder der Vorbereitung auf Pandemien, erwartet man von staatlicher Seite, dass Gefahren frühzeitig erkannt, vorausschauend agiert, und koordiniert mit Partnern Gegenmaßnahmen ergriffen werden.

    Aktive Spaltung der EU

    Exemplarisch kann bei einem Thema beobachtet werden, wie man von deutscher Seite aktiv an Möglichkeiten der Erpressbarkeit und der Spaltung selbst mitarbeitet – die Rede ist von dem Erdgaspipeline-Projekt Nord Stream. Jetzt fragt man sich:

    • Was hat dieses, vor allem von SPD-Ministern, SPD-Landesregierungen (und ehemaligen SPD-Ministern und -Ministerpräsidenten) so hochgelobte, als Brücke und Friedensprojekt beworbene und bejubelte Projekt, mit so finsteren Worten wie Erpressungspotential zu tun?
    • Warum baut man die Pipeline – bereits beginnend mit Nord Stream 2004 – in der Ostsee direkt zwischen Deutschland und Russland?
    • Warum kann keine „Brücke“ über die Staaten Ost- und Zentraleuropas gebaut werden?
    • Wieso nutzt man nicht die (seit den 70er Jahren) bestehenden Trassen und baut hier weitere Pipelines zur Kapazitätserweiterung, wenn dies tatsächlich notwendig wäre?
    • Warum ist der Kreml an der Umsetzung dieses Projektes (seit 20 Jahren) so interessiert, dass alles getan wird, um es zu ermöglichen, und dafür ein Ex-Bundeskanzler und seine Partei-Seilschaften eingebunden werden?

    Eine Landkarte mit Gas-Pipelines in Russland

    Im Folgenden wird das etwas klarer. Die Kontrolle über Verkehrswege, Pipelines, auch Stromtrassen war schon immer eine Möglichkeit, politischen Einfluss zu nehmen, ganz nach dem alten – auch geopolitisch gültigen und angewandten – divide et impera (lateinisch: teile und herrsche). Nun fragt man sich, was hat eine Pipeline damit zu tun? Das ist leicht erklärt, indem man die Abhängigkeit von Gaslieferungen aus Russland betrachtet und sich vor Augen führt, dass Nord Stream 2 (NS2) faktisch unsere ost- und zentraleuropäischen EU-Partner umgeht. Diese Pipeline gibt Russland die Möglichkeit, sehr große Gasmengen direkt nach Deutschland zu liefern. Die Lieferung ist zwar langfristig vielleicht nicht sinnvoll, aber Gas ist als Brücken-Energieträger eingeplant, um den Wegfall von Kohle bis 2037 und Atomenergie bis Ende 2022 zu kompensieren. Allerdings würde eine einseitige Abhängigkeit und eine „Brückensperrung“ – egal von welcher Seite – zu Herausforderungen für Deutschland führen. Zudem können die Gaslieferungen im Falle eines Konflikts von Kremlseite gezielt zur Spaltung der EU genutzt werden, indem man Deutschland exklusiv beliefert, seine osteuropäischen Nachbarn aber nicht. Besonders interessant wird es, wenn die Speicherkapazitäten (intensiv von Gazprom und anderen russischen Playern aufgekauft bzw. durch Mehrheitsbeteiligungen kontrolliert) im Süden Deutschlands und angrenzend in Österreich aktuell fast leer sind und man kurzfristig größere Mengen Gas benötigt. Tatsächlich ist der Füllstand der Untertage-Erdgasspeicher in Deutschland und Österreich in diesem Jahr so niedrig wie noch nie [2] – ein Schelm, wer Böses dabei denkt, besonders wenn man von russischer Seite keine Leitungskapazitäten durch die Ukraine und Belarus/Polen mehr für die nächsten Monate gekauft hat.

    Geopolitische Kurzsichtigkeit & Seilschaften

    Das Projekt NS2 wurde nach Vorplanungen 2014 von der Nord Stream AG gestartet und in Folge vom damaligen Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) (jetzt Chef der Atlantikbrücke) und seiner Nachfolgerin Brigitte Zypries massiv unterstützt. Es wurde von Anbeginn, wie schon zuvor Nord Stream, als reines Wirtschaftsprojekt propagiert. Dies sah man in den Nachbarländern allerdings kritischer und versuchte, auf verschiedenen Wegen und Ebenen mit Deutschland ins Gespräch zu kommen, um auf die geopolitische und die monopolbildende Tragweite des Projekts hinzuweisen. Im Außenministerium wie im Wirtschaftsministerium stellte man sich taub, was nicht unbedingt auf einen Mangel an Analysefähigkeit  zurückzuführen ist [3].

    Hier muss es also direkt aus dem Bereich der dort installierten SPD-Seilschaften – früher Steinmeier, später Gabriel, heute Maas – theoretisch von oberster Ebene einen Maulkorberlass gegeben haben. Anders ist es faktisch nicht zu erklären, dass hier kein Zusammenhang zwischen dem Wirtschaftsprojekt und der geopolitischen und marktdominierenden „Waffe“ erkannt wurde, die den EU-Sicherheitsinteressen massiv schadet.

    Zwei deutsche Ministerien arbeiteten von 2015 bis 2018 eng zusammen, um das Projekt auf Bundesebene zügig durchzupeitschen – unter der Leitung von Steinmeier, Gabriel, Zypries und später Maas – und stellten dabei auch entscheidende Weichen für die Energiewende, die im Kern auf der von der Nord Stream AG schon länger propagierten “Brückentechnologie” Erdgas und damit einer Versorgungsabhängigkeit von NS2 basiert. Seitens der Nord Stream AG wurde das Projekt durch den seit 2006 als Vorsitzenden des Aktionärsausschusses der Nord Stream AG (ab 2016 auch Vorsitzender des Verwaltungsrates der Nord Stream 2 AG) fungierenden Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder (den nach eigener Darstellung eine starke Männerfreundschaft mit dem russischen Präsidenten verbindet) als Steuermann lobbyiert, promotet und koordiniert. EU-Partner wie Polen meldeten (ab Ende 2015) frühzeitige Bedenken an und suchten zunächst das Gespräch. Seitens der Bundesregierung stellte man sich konsequent taub, verwies auf den vorgeblich rein wirtschaftlichen Charakter des Projektes und torpedierte somit jede Möglichkeit, die geopolitischen Risiken des Projektes zu begrenzen oder ganz zu entschärfen. Zudem wurde von deutscher Seite ein polnisches Projekt behindert, dass es Polen ermöglicht hätte, über Deutschland Gas, u.a. von NS2 zu beziehen und dafür eine bestehende Leitung auszubauen. Polen blieb somit nur die Möglichkeit, Kartellverfahren einzuleiten und vor dem EuGH Klage einzureichen; Deutschland erlitt in diesem Verfahren eine herbe Niederlage; am 15.07.2021 lehnte der EuGH auch die von Deutschland eingereichten Rechtsmittel ab [4].

    Auszug aus Urteil des EuGH zu OPAL Pipeline A
    Die sturen Handlungen der deutschen Regierung gegen EU-Sicherheitsinteressen (was durch Beschlüsse des Europäischen Parlamentes bestätigt wurde) grenzen an Heuchelei. Einerseits gibt man sich europäisch, auf der anderen Seite pflegt man Seilschaften, handelt offenkundig kurzsichtig und verweigert EU-Partnen und Nachbarn den Dialog.

    Krieg ist Frieden bei der SPD

    Besonders interessant wird es, wenn man sich ansieht, mit welcher Hingabe SPD-Politiker wie beispielsweise Matthias Platzeck, der ehemalige Ministerpräsident von Brandenburg und auch mitverantwortlich für das Flughafendebakel in Berlin, oder die jetzige Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern Manuela Schwesig und ihr Vorgänger im Amt als Regierungschef in Mecklenburg-Vorpommern, Erwin Sellering, oder aber der jetzige sehr geschätzte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (in der Entscheidungsphase von NS2 Außenminister) in höchsten Tönen NS2 als Friedensprojekt bejubeln [5]. Das Gegenteil ist der Fall, wenn man sich die Fakten genauer anschaut. Wie zuvor erläutert, wurde von den EU-Partnern in Osteuropa auf jeglicher Ebene moniert, dass sie eine geopolitische Waffe zur Spaltung Europas fürchten. Entschärfungsversuche sowohl diplomatisch als auch durch vorgeschlagene bauliche Maßnahmen zur Sicherstellung der Versorgungssicherheit der osteuropäischen Partner, wurden von Seiten der SPD-Ministerien – so wirkt es jedenfalls auf Partner im Baltikum, Polen, Tschechien und weiteren verbündeten Ländern – aktiv blockiert. Auch auf einer anderen Ebene wirkt das Friedensprojekt eher wie eine Analogie zum Roman 1984, in dem der Ausdruck „Krieg ist Frieden“ geprägt wurde.

    Man kann Russland sein Handeln wirklich nicht vorwerfen; Russland setzt klar auf Real- und Geopolitik und nutzt in der Tradition von Carl Schmitt [6] jede sich bietende Möglichkeit, um sein Einflussgebiet zu erweitern und zu festigen [7] . Unabhängig davon, ob das Vorgehen von deutscher Seite Einfältigkeit oder Absicht war, so hat NS2 jetzt substanzielles Potenzial, die Spaltung der EU (weiter) zu betreiben und eine Einmischung von Deutschland in Konflikte in Gebieten, in denen Russland Hegemonieansprüche stellt, auf Seiten der EU zu verhindern – Deutschland als EU- und NATO-Partner also quasi zu neutralisieren. Wenn der Winter naht, ist man sich in Deutschland gewiss selbst am nächsten. Was interessieren da die Länder in Ost- und Zentraleuropa, wenn man über die Friedensbrücke North Stream 2 Gas beziehen und in der warmen Stube sitzen kann. Natürlich kann man diese Option von russischer Seite sicher einmal nutzen; besonders in Kombination mit sehr leeren Erdgasspeichern.

    Interessant wird es auch, wenn man sich die zeitlichen Zusammenhänge zwischen dem Beginn des Ukraine-Krieges 2014 und dem offiziellen Projektstart von NS2 2015 anschaut. Gelegenheit macht Diebe, aber was interessiert die SPD die Stabilität Europas oder die Glaubwürdigkeit Deutschlands, wenn dem Genossen die Wirtschaftsinteressen so nah sind. Normalerweise müsste Deutschland gerade jetzt für unsere osteuropäischen Nachbarn – aufgrund unserer Geschichte – der zuverlässigste Partner sein [8]. Die Zielsetzung Russlands müsste eigentlich allen Beteiligten schon im Jahr 2000 klar gewesen sein, als der damalige Vorstandsvorsitzende von Gazprom Rem Wjachirew sagte: „Ich werde die Pipeline zur Umgehung der Ukraine fertig stellen, noch während ich lebe.“ (er meinte damals das gesamte Projekt – Nord Stream und Nord Stream 2) [9].

    Die aktuelle Lage

    Eine Leitung von NS2 ist seit Juni 2021 fertig gestellt, die zweite Leitung soll im September fertig werden, die letzten Kilometer Rohr werden in der Ostsee verlegt. Damit ist das Projekt fast fertiggestellt und Putin drohte der Ukraine bereits im Juni auf dem Petersburger Wirtschaftsforum – unter reger Beteiligung von Persönlichkeiten aus der deutschen Wirtschaft und Politik. Zudem droht der Kreml jetzt offen anderen, beschwört die Vereinigung mit der Ukraine (also deren Anschluß) [10] und stimmt Militär und Bevölkerung auf einen möglichen militärischen Konflikt ein. Denn die Zielsetzung, das Zerbrechen der Sowjetunion zu revidieren und Russlands Grenzen, zumindest den hegemonialen Einfluß, wieder auf die „alten“ Grenzen des russischen Imperiums auszudehnen, erscheint tief in den Zielen des Kreml verankert. Dabei dürfte auch die Erkenntnis, dass man sich nur zusammen mit den Ressourcen der Ukraine und anderer Ländern in der Lage sieht, den sich abzeichnenden Herausforderungen durch China gewachsen zu sein, mit eine Rolle spielen. Natürlich möchte man auch (wieder) eine geopolitische Pufferzone gegenüber dem Westen etablieren, welche man verloren glaubt. Deshalb ist es nachvollziehbar, dass seitens des Kreml schon länger ein strategisches Erpressungspotential gegen Deutschland aufgebaut wird, um es für politischen Druck gegen Deutschland und gleichzeitig Schwächung der westlichen Nachbarn Russlands zur Durchsetzung seiner Interessen einzusetzen. Dies wird deutlich, wenn wir uns eine Situation vor Augen führen, bei der unsere östlichen Nachbarn in Polen, Tschechien, dem Baltikum aber auch der Ukraine gezielt von der Belieferung ausgeschlossen werden, während Deutschland gezielt weiter beliefert wird. Früher saß man in einem Boot und war gezwungen und auch gewillt, gemeinsam mit den anderen betroffenen Ländern im Ernstfall Druck auf Russland auszuüben. Mit NS2 kann und wird man sich bei einer Warnung aus Moskau gepflegt zurückhalten. Verbunden mit der Kontrolle über Gasspeicher könnte Russland also ein erhebliches Erpressungspotential aufbauen. Seit dem Kaukasus-Krieg 2008, ganz deutlich seit der Krim-Annexion 2014, ist erkennbar, dass der Kreml bereit und gewillt ist, die Durchsetzung seiner geopolitischen Interessen konsequent und gezielt unter Einsatz all seiner verfügbaren Mittel zu betreiben. Auch verbal lassen Regierungsmitglieder und offizielle Vertreter aus Moskau keine Zweifel an den Zielen aufkommen. Die Gasspeicher sind leer, die Leitungen werden gekappt, der Winter steht an und die Bevölkerung könnte nicht heizen oder müsste gar kalt duschen. Eine Bundesregierung würde hier recht vorsichtig sein, wenn die warme Dusche wegfallen würde, aber man könnte ja auch die Hände in Unschuld waschen: das hätte ja niemand ahnen können. Aktuell hat Gazprom auch keine Leitungskapazitäten für die Durchleitung von Erdgas durch die über Belarus/Polen und die Ukraine laufenden Gasleitungen für das 4. Quartal 2021 und die ersten drei Quartale 2022 gebucht (!!) – wir können uns also schon einmal darauf einstellen, was auf uns zukommen kann. Die derzeitige Bundesregierung wird dann übrigens nicht mehr im Amt sein.

    Falls Russland tatsächlich beabsichtigt, den Anschluss der Ukraine oder ein Teilen der Ukraine erzwingen zu wollen [8], um dem Ziel, Russland in den alten Grenzen der Sowjetunion wiederherzustellen bzw. jenen Bereich zu kontrollieren, näher zu kommen, so sind Androhung oder gar Einsatz der vorbeschriebenen Machtinstrumente gewiss nicht unwahrscheinlich.

    Partnerschaft in Europa

    Deutschlands Partner und Nachbarn in Ost- und Zentraleuropa müssen es wirklich mit der Angst zu tun bekommen. Nicht nur ihre geografische und historische Wahrnehmung ist durch die Tatsache geprägt, dass sie immer wieder zwischen Deutschland/Österreich/Preussen einerseits und Russland andererseits zerrieben, zerteilt und verkauft wurden. Auch die aktuellen „Brückenbau“-Aktionen, ergänzt durch eine sich über 10 Jahre fluktuierend doch stetig entwickelnden Appeasementpolitik im Angesicht einer sich steigerndem Aggression des Kremls gegenüber unseren Nachbarn (aber auch den Menschen in Russland), die faktisch dem Kreml in die Hände spielt, steigert gewiss nicht das Vertrauen bei unseren östlichen Nachbarn in die Zuverlässigkeit Deutschlands. Besonders dann nicht, wenn Berlin immer wieder den Dialog mit Russland sucht, gleichzeitig aber einen Dialog mit unseren direkten Nachbarn und Partnern – zumindest bezüglich NS2 (und Energieversorgung) – konsequent verweigert oder sie mit freundlichen Gesten zu versichern versucht. Ob es nun Absicht oder nur Unfähigkeit und grobe Fahrlässigkeit ist, all dies hat stark mit zu dem derzeitigen Tiefpunkt im Ansehen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik in Osteuropa beigetragen. Es sollte daher nicht verwundern, wenn im Ausland eine bewusste Zusammenarbeit der genannten beteiligten SPD-Minister mit dem Kreml befürchtet wird; ein Misstrauen, das bisher nachvollziehbar den Parteien am linken oder rechten Rand vorbehalten war.

    Gewiss denkt man im Ausland auch gleich über Korruption, mafiöse Strukturen und alte DDR-Seilschaften nach, wenn man sich die Gemengelage anschaut. Besonders nach dem Aussenministertreffen des Europarates in Helsinki am 17. Mai 2019 verfestigte sich der Eindruck bei unseren östlichen Nachbarn, dass sie verkauft würden. Dort wurde die von Deutschland initiierte und maßgeblich durch Aussenminister Maas lobbyierte Rückgabe des Stimmrechtes an Russland im PACE (parlamentarische Versammlung des Europarates) gegen die Stimmen der östlichen Nachbarn Deutschlands und anderer Staaten beschlossen [11]. Der Europarat hatte Russland das Stimmrecht in Folge der Krim-Annexion und der Unterstützung der Abspaltung der Ostukraine (Ukraine-Krieg) 2014 entzogen. Mit Rückgabe des Stimmrechtes im PACE wurde Russland von Deutschland und seinen Unterstützern signalisiert, dass man sich mit der Annexion der Krim und dem Krieg im Donbass zumindest in Berlin de facto abgefunden hat.

    Zudem wurde der aktuelle NS2 Deal zwischen Deutschland und den USA, der vorgeblich ausgehandelt wurde, um die Sicherheitsinteressen der Ukraine zu berücksichtigen, in Deutschland als Erfolg der deutschen Aussenpolitik gefeiert – von unseren Verbündeten wird er hingegen als Sieg Russlands verstanden. Weder die Ukraine, noch unsere östlichen Nachbarn, wurden in die Verhandlungen einbezogen – sie wurden auch hier bewusst von Berlin aussen vor gelassen. Tatsächlich wurde die Ukraine vor jeglicher Kritik an dem Deal mit dem deutlichen Hinweis, dass dies die für die Ukraine vereinbarten Sicherheiten und Kooperationsangebote im Bereich von Technologien für den Klimawandel und Einbindung der Ukraine in europäische Energienetze gefährden würde, gewarnt. Damit es überhaupt zu dem Deal kam, musste Deutschland von den USA faktisch gezwungen werden, Zugeständnisse an die Ukraine zu machen. Bei der Vereinbarung handelt es sich noch nicht einmal um einen international bindenen Vertrag, tatsächlich einforderbare Sicherheiten werden der Ukraine damit nicht gewährt. Ob die vereinbarten Zugeständnisse an die Ukraine im Fall einer Eskalation des Konfliktes mit Russland von deutscher Seite auch eingehalten würden, ist wieder eine andere Frage. So klingt der Satz „… deswegen werden wir vielleicht – im Kontext mit dem „Green Deal“ – mehr Gas von anderen Ländern wie der Sowjetunion benötigen“, den Dr. Altmeier als Wirtschafts- und Energieminister auf einer Pressekonferenz am 7. Juli 2020 sagte, fast prophetisch. Auch wenn es offensichtlich ein Versprechen war, so zeigt es doch, was ihm seine SPD-Vorgänger in Sachen Energiepolitik und NS2 bei Amtsübernahme 2018 hinterlassen haben.

    Damit verdeutlicht NS2 das allgemeine und systematische Versagen der drei letzten Regierungen Merkels, insbesondere im Außen-, Wirtschafts- und Energie- sowie Finanzministerium in den Bereichen Energiewende, Klimaschutz, europäische Zusammenarbeit, Sicherheit und Stabilität in Europa, Menschenrechten sowie Außen- und Sicherheitspolitik – wobei die Hauptakteure aus dem Kreis der SPD bzw. deren direkten Umfeld stammen. Und dass Bundeskanzlerin Merkel es bewusst mitgetragen hat. Botschafter Wolfgang Ischinger merkte am 22.07.2021 an, dass er über den Vertrauensverlust bei Partnern und Nachbarn stark verunsichert sei, dass diese einen seit 1990 noch nie dagewesenen Tiefpunkt in der deutschen Ostpolitik darstelle [12].

    Wir PIRATEN stehen hier aber ganz klar in Opposition zu solchen Machenschaften, denn wir stehen zu unseren osteuropäischen Nachbarn. So unterstützen wir auch unsere Kollegen in z.B. der tschechischen Piratenpartei, denn das Sicherheitsinteresse Tschechiens oder Polens oder anderer Partner ist auch das Sicherheitsinteresse der Piratenpartei Deutschland. Wir sind die erste Partei mit einem gesamteuropäischen Wahlprogramm und leben Europa.

    Und im übrigen bin ich der Ansicht, dass die SPD keinerlei Positionen mit Bezug zu Außen- und Sicherheitspolitik besetzen sollte. Selbst 5 % sind zu viel für eine Partei, die so dermaßen europäische Sicherheitsinteressen und Werte systematisch untergraben und verraten hat. Deutschland wirkt von außen wie eine korrupte Bananenrepublik. Wenn man sich vielleicht noch bei den im Nawalny-Video gezeigten Machtstrukturen Russlands Gedanken machen würde, würde auch auffallen, dass diese ziemliche Übereinstimmungen und Verflechtungen auf deutscher Seite haben. Es wird sich zeigen, dass diese sich bestimmt bis zu Nord Stream 2 fortschreiben lassen, denn die Protagonisten gleichen sich.

    Quellen:

    [1] https://aussenpolitik.piratenpartei.de/2020/07/08/resilienz-in-deutschland-und-europa/

    [2] https://www.saurugg.net/2021/blog/krisenvorsorge/die-naechste-krise-bahnt-sich-an-gasversorgung-in-europa

    [3] https://www.piratenpartei-nrw.de/2021/02/07/wegfall-von-sozialwissenschaften-schraenkt-interdisziplinaeres-denken-ein-kein-go-fuer-operation-leichtes-spiel/

    [4] https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2021-07/cp210129de.pdf

    [5] https://www.cicero.de/aussenpolitik/interview-bundespraesident-steinmeier-nord-stream-2-ukraine/plus

    [6] https://www.deutschlandfunk.de/macht-und-recht-versuch-ueber-das-denken-carl-schmitts.1184.de.html?dram:article_id=439014

    [7] https://aussenpolitik.piratenpartei.de/2020/07/14/nach-volksabstimmung-in-russland-ein-paar-karat-schwerer-und-schaerfer-der-lupenreine-demokrat/

    [8] https://aussenpolitik.piratenpartei.de/2021/04/12/warum-deutschland-und-die-eu-es-sich-nicht-leisten-koennen-im-ukraine-konflikt-neutral-zu-bleiben/

    [9] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/der-handelsstreit/schon-die-sowjetunion-lieferte-zuverlaessig-gas-15693414.html

    [10] https://www.fr.de/politik/putin-droht-kiew-per-aufsatz-90859088.html

    [11] https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/internationale-organisationen/europarat/russland-europarat-maas/2177470

    [12] https://twitter.com/ischinger/status/1418149011312291843

  • Tschechien-Russland Konflikt – PIRATEN erwarten europäische Linie

    Tschechien-Russland Konflikt – PIRATEN erwarten europäische Linie

    Ermittlungen Tschechiens haben eine Beteiligung des russischen Geheimdienstes sowie von Mitarbeitern der russischen Botschaft in Tschechien mit der Sprengung eines Munitionslagers im tschechischen Vrbětice im Jahr 2014 hergestellt. Im Zuge dessen hat die tschechische Regierung beschlossen, das Personal der russischen Botschaft in Prag zu verkleinern, offiziell um ein Gleichgewicht zwischen den diplomatischen Vertretungen beider Länder herzustellen – dies würde einer Ausweisung von ca. 70 Diplomaten und Botschaftsangestellten gleichkommen. Dabei wird die Regierung von der tschechischen Piratenpartei, der derzeit führenden Oppositionspartei unterstützt.

    „Der Anschlag auf das tschechische Munitionsdepot durch russische Agenten war auch ein Angriff auf die Europäische Union. Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, sich der Unterstützung der tschechischen Haltung, zu der sich die baltischen Staaten bereits bekannt haben, anzuschließen und eine gemeinsame europäischen Linie bezüglich Russland zu erwirken. Dazu verpflichten uns die Regeln des Lissabonvertrages,“

    so Sebastian Alscher, Vorsitzender der Piratenpartei Deutschland.

    „Einen außenpolitischen deutschen Sonderweg gegenüber Russland darf es hier nicht geben. Es muss europäisch gehandelt werden,“

    ergänzt Alexander Kohler, Themenbeauftragter für Außen- und Sicherheitspolitik der Piratenpartei Deutschland.

  • Hintergründe zum Berg Karabach Konflikt

    Hintergründe zum Berg Karabach Konflikt

    Um den Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan besser einordnen zu können, müssen einerseits die Region Berg Karabach im folgenden Arzach und die beteiligten Akteure auf den verschiedensten Ebenen betrachtet werden, gleichzeitig aber auch der Kaukasus als Ganzes. Sowohl die Geographie als auch die lokalen Mächte mit Ihren Interessen spielen eine entscheidende Rolle in diesem Konflikt.

    Geographie

    Zunächst zur Geographie: natürliche Hindernisse und Grenzen wie Gebirge, Flüsse, Meere und Ozeane formen und begrenzen Länder und Großmächte. Strategisch günstige Gebiete findet man in den Grenzregionen von Kulturkreisen mit geographischen Gegebenheiten, die territoriale Eroberungszüge erschweren. Auch Verkehrswege, Rohstoffvorkommen und kultivierbares Land lenken die Aufmerksamkeit von Großmächten auf bestimmte Regionen. Beim Kaukasus, zu dem die Länder Armenien und Aserbaidschan gehören, handelt es sich um eine solche strategisch wichtige Region.

    Wir haben hier faktisch alleswas das Geostrategenherz höher schlagen lässt. Ein 1100 km langes Hochgebirge, das sich von Westnordwest nach Ostsüdost zwischen dem Schwarzen und Kaspischen Meer erstreckt. Drei Gebirgsketten umfasst das Gebirgssystem der Region, den Großen Kaukasus, den kleinen Kaukasus und das Talysch-Gebirge. Die Region besteht aus Staatsgebieten von Russland, Georgien, Armenien, Iran und Aserbaidschan. Sie war schon im Altertum eine wichtige Handelsdrehscheibe und Rohstofflieferant. [1]

    Auch heute sind die Öl- und Gasvorkommen der Region ein begehrtes Gut, zum Beispiel ging es in der Schlacht um Stalingrad auch um die Kontrolle über Rohöl-Quellen und deren Transportwege.

    Great Game im Kaukasus

    Der Kaukasus war schon seit Jahrtausenden Grenzgebiet und Pufferregion zwischen den Großmächten der Mittelmeerregion und Großmächten des Persischen Plateaus. Nach Norden hin diente er zunächst als Pufferzone gegen die Steppenvölker. Später übernahm Russland dort die Rolle als weitere Großmacht. Wann immer es zu Veränderungen im umgebenden Machtgefüge kommt, wirkt sich das auch auf die im Kaukasus bestehenden Konflikte aus.

    Republik Arzach

    Beim Streit um die Region Arzach der sich seit dem 27. September 2020 in größeren Kampfhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan manifestiert, handelt es sich um einen langen schwelenden Konflikt.

    Die erste moderne Auseinandersetzung um die Region Arzach fand schon im Anschluss an die Oktoberrevolution statt. Armenien und Aserbaidschan erlangten ihre Unabhängigkeit vom zaristischen Russland und kämpften schon damals um die Kontrolle über die mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region und deren umliegende Gebiete. [2]

    Dieser Konflikt schwelte weiter und flammte in den 80er Jahren vor dem Zusammenbrechen der Sowjetunion wieder auf. [3] 

    Mit dem Ende der Sowjetunion und nach der Erklärung der Unabhängigkeit der Region von Aserbaidschan 1991, kam es zwischen 1992 bis 1994 zu einem offenen Krieg mit schweren Kämpfen, verbunden mit der Vertreibung der dort ansässigen Bevölkerung. Mit dem Waffenstillstand vom 12. Mai 1994 wurden die Kampfhandlungen beendet. Die Bilanz des Krieges: 20.000 Tote und insgesamt mehr als eine Million Vertriebene. [4] 

    Armenien bzw. die Unabhängigkeitsbewegung der Region Arzach hatte fast alle Ziele erreicht, die internationale Anerkennung der Republik Arzach, blieb allerdings ein Wunschtraum.

    Internationaler Status

    Im Streit um Berg-Karabach prallen zwei völkerrechtliche Prinzipien aufeinander: Auf der einen Seite steht das Prinzip der territorialen Integrität. Aserbaidschan argumentiert, dass das Gebiet der einstigen sowjetischen Unionsrepublik Aserbaidschan angehört, welches von der internationalen Ge­meinschaft insofern bestätigt wird, weil bislang kein Staat die Unabhängigkeit Arzach diplomatisch anerkannt hat. Armenien argumentiert auf der anderen Seite mit dem Recht auf nationale Selbstbestimmung und fordert damit die Loslösung des mehrheitlich von Arme­ni­ern bewohnten ehemaligen auto­no­men Gebiets von der Republik Aserbaidschan. [5] 

    Spielball der Mächte

    Wann immer eine der umliegenden Nationen Ambitionen gezeigt hat, ihr Machgebiet auszuweiten, hatte das auch konsequenterweise Auswirkungen auf die Kaukasusregion und die Staatsgebiete von Georgien, Armenien und Aserbaidschan. Neben den Vorläuferstaaten der Türkei und des Irans, die dies schon seit über 2000 Jahren praktizieren, stieg Russland im 18. Jahrhundert in das Kaukasusspiel ein. Daneben gibt es weitere Mächte, die heute Einfluss auf die Region ausüben, wie beispielsweise China oder die USA, aber auch einzelne EU-Staaten, wie Frankreich, welches selbst eine große armenische Minderheit im eigenen Land hat.

    Russlands Position

    Mit dem Vertrag von Georgijewsk 1784 griff man in das Spiel ein. In diesem Vertrag wollte sich Georgien gegen das Osmanische und Persische Reich sichern, verlor aber seine Unabhängigkeit in außenpolitischen Entscheidungen. Im Endeffekt zeigt der Umgang Russlands mit dem Vertrag die Kaukasuspolitik Russlands beispielhaft auf. Man wartet, bis sich die Kaukasusvölker aufgerieben haben, bevor man selbst eingreift. Im heutigen Konflikt um Arzach ist dies auch wieder zu sehen. Russland pflegt gute Beziehungen sowohl zu Armenien als auch zu Aserbaidschan. Ein Großteil der Waffen beider Parteien sind aus russischer Produktion. Russland hat allerdings ein Eingreifen angekündigt, falls direkt armenisches Territorium angegriffen wird, da Russland ein entsprechendes Abkommen mit Armenien hat und eine Basis in Armenien unterhält. [6] 

    Andererseits ist Russland nicht glücklich mit dem pro-westlichen Kurs, den der armenische Premierminister Nikol Pachinjan eingeschlagen hat.

    Die türkische Position

    In der türkischen Position kommt das Großmachtstreben der türkischen Geopolitik zum Ausdruck. Die Türkei möchte den Vertrag von Lausanne von 1923 hinter sich lassen und wieder an die osmanische geopolitische Tradition anknüpfen. Um dies zu erreichen, zündelt man im östlichen Mittelmeer und der Ägäis bezüglich Erdgasreserven und Pipelineprojekten und erkennt internationales Seerecht nicht an, wodurch es zu Konflikten mit Griechenland, Zypern, Israel, Ägypten und Frankreich kommt. Um diese Bestrebungen zu legitimieren und die Machtprojektion auszudehnen, stellte man sich in Libyen auf die Seite der LNA und unterstützte diese mit Personal, Material und Informationen. Teile von Nordsyrien wurden besetzt und die dort ansässigen Islamisten und andere Freiwillige als Söldner angeheuert, welche in Libyen und Aserbaidschan als einfache Frontsoldaten dienen. Darüber hinaus ist die Türkei im Nordirak aktiv und nunmehr eben auch auf der Seite von Aserbaidschan im aktuellen Konflikt um Arzach. Ankara fühlt sich bereit zur Machtprojektion. Um diese Zielsetzung umsetzen zu können, wurde massiv in eine eigenständige Rüstungsindustrie investiert; insbesondere Drohnen bekommen inzwischen einige Aufmerksamkeit. [7] Dazu kommt ein Genozid an den Armeniern in der Endphase des Osmanischen Reiches, der bis heute von der Türkei geleugnet wird und die Beziehungen bis heute nachhaltig belastet. [8] 

    Zudem hat Erdogan keinerlei Berührungsängste mit dem Islamischen Staat, dem er nicht nur das Öl abgekauft hat, sondern auch die eigenen Landesgrenzen frei passieren ließ, wie beispielsweise bei Angriffen auf Kobani in Syrien von türkischem Gebiet aus. [9] 

    Die Iranische Position

    Iran und seine Vorläuferstaaten hatten schon seit dem alten Persien vor über 2000 Jahren Interessen in der Region, was häufig zu Konflikten mit der Türkei oder Russland führte. Eine Einmischung der Türkei in den Konflikt wird im Iran – der bald eine Transformationsphase einleiten wird und sein Umfeld gesichert haben will – nicht so gern gesehen. Zudem bilden die turksprachigen Azeris die Bevölkerungsgruppe, nach der Aserbaidschan benannt ist, eine der größten Minderheiten Irans. Der Iran verlegt zwar Truppen an die Grenze, hält sich allerdings aus dem Konflikt weitestgehend heraus. Unseren internen Analysen der AG Außen- und Sicherheitspolitik zufolge, wird eine Transformationsphase von einer islamischen Republik zu einer eher national orientierten Regierungsform eingeleitet werden. Hierzu werden wir noch einen entsprechenden Artikel veröffentlichen.

    Georgien zwischen allen Fronten

    Bei Georgien, der dritten ehemaligen Sowjetrepublik im Kaukasus, handelt es sich gleichermaßen um den dritten Staat im Kaukasus, der seit alters her ein Spielball der umliegenden Mächte ist. Georgien ist neben dem Iran das einzige Land, über dessen Staatsgebiet Nachschub an Rüstungsgütern nach Armenien bzw. die Republik Arzach gelangen könnte. Gleichzeitig sind Gebiete wie Aprasien und Südossetien von dem armenischen Verbündeten Russland besetzt. Außerdem existieren Pipelines von Aserbaidschan über Georgien in die Türkei und damit gewisse wirtschaftliche Abhängigkeiten. Gleichzeitig hat man auch über den gemeinsamen Glauben, die Kultur und Wirtschaft große Gemeinsamkeiten mit den Armeniern und etwa gleich große Minderheiten beider Nationalitäten – Georgien sitzt somit zwischen allen Stühlen.

    [10] 

    Der Aktuelle Konflikt

    Die Situation eskalierte am 27. September 2020, als bei einer Offensive Aserbaidschans auf das umstrittene Gebiet von Arzach, schwere Kämpfe ausbrachen. Alle Beteiligten schoben sich gegenseitig die Verantwortung zu und verkündeten gleichzeitig die Generalmobilmachung und das Kriegsrecht. Die Türkei stellte sich umgehend auf die Seite Aserbaidschans. [11] 

    Man hatte ja die entsprechenden Truppenverbände zu „Übungszwecken“ nach Aserbaidschan gebracht. 

    Kurz vor den gewaltsamen Zusammenstößen fanden umfangreiche Militärmanöver zwischen der Türkei und Aserbaidschan in Aserbaidschan statt. [12] 

    Auf aserbaidschanischer Seite griffen auch islamistische Söldner ein, die die Türkei, wie bereits für den Libyenkonflikt, in Syrien angeheuert hatte. [13] 

    Zivile Pick Ups wurden von den aserbaidschanischen Behörden im Vorfeld des Konflikts im großen Stil beschlagnahmt. [14] 

    Testgebiet

    Der Konflikt dient allen Beteiligten für umfangreiche Praxistests moderner Waffensysteme. Aserbaidschan setzt großzügig Drohnen türkischer und israelischer Produktion ein, die es sich durch die umfangreichen Geldmittel aus dem Öl- und Gas-Geschäft leisten kann. Armenien setzt auf Drohnen russischer Bauart sowie Eigenproduktionen. [15] Dabei ist anzumerken, dass die von Aserbaidschan eingesetzten Flugkörper von türkischem Personal geflogen werden, da Aserbadschan kein ausgebildetes Personal dafür hat. Die AG Außen- und Sicherheitspolitik bereitet einen Beitrag zu Drohnen vor und wird dort noch einmal gesondert auf die Thematik eingehen.

    Allerdings zeigen die Erfolge Aserbaidschans schon jetzt, dass Drohnen künftig eine größere Rolle in Konflikten spielen werden. Neben neuen Waffen kommen neue Formen der Propaganda zum Einsatz. Die Kriegsführung über das Internet wird ausprobiert.

    Um die Deutungshoheit über den Konflikt zu erlangen, mobilisieren beide Seiten Provokateure und Botnetzwerke. Die Türkei und Pakistan z.B. engagieren sich hierbei naturgemäß für Aserbaidschan.

    [16] 

    Einschätzung


    Copyright: CC0 / Quelle: de.wikipedia.org/wiki/Krieg_um_Bergkarabach_2020#/media/Datei:Artsakh_de.svg

    Das Kriegsglück im aktuellen Konflikt war vorwiegend auf Seiten der Aserbaidschaner, die große Geländegewinne erzielen konnten, weil sie auf die Unterstützung der Türkei bauen konnten, während Russland sich offiziell neutral verhielt. Zudem hat Aserbaidschan die moderneren Waffensysteme und konnte durch den Einsatz von Drohnen viele gepanzerte Fahrzeuge der armenischen Seite zerstören. Außerdem wurden mögliche Nachschublinien nach Armenien stark eingeschränkt. Allerdings sind die Geländegewinne, die gemacht werden konnten, bisher ausschließlich im Flachland erfolgt. Die gebirgigen Regionen stellten eine ganz besondere Herausforderung für Angreifer dar. Das passt zu Meldungen, dass die Türkei zu den bisherigen Truppen und Drohnen, zusätzliche Spezialkräfte für den Kampf im Gebirge nach Aserbaidschan verlegte. [17] 

    Mit der Einnahme der strategisch wichtigen Stadt Schuschi vor den Toren der Hauptstadt von Arzach, Stepanakert, [18] wurde allerdings ein Punkt erreicht, an dem es Moskau für gegeben erachtete einzugreifen. Die Kontrahenten hatten sich ja, wie es in der russischen Kaukasuspolitik üblich ist, ausreichend die Köpfe eingeschlagen und man konnte jetzt eingreifen (Siehe Vertrag von Georgijewsk 1784). Es wurde daraufhin erstaunlich schnell ein Waffenstillstandsvertrag ausgehandelt.

    Der „Waffenstillstand“

    Faktisch bleibt Arzach unabhängig von Aserbaidschan, muss aber umfangreiche Gebiete abtreten, Arzach wird wie auch schon nach dem Ende der Sowjetunion eine Insel umgeben von Aserbaidschan. Eine Verbindungskorridor zu Armenien, wird aufgebaut und kontrolliert durch russische „Friedenstruppen“, gleichzeitig gibt es einen Verbindungskorridor zwischen dem Kerngebiet Aserbaidschans und einer Enklave, die von der Türkei und Armenien umschlossen ist. Dieser Verbindungskorridor umfasst quasi das Grenzgebiet zwischen Armenien und dem Iran. Beide Korridore werden von russischen „Friedenstruppen“ kontrolliert.

    Situation der verschiedenen Parteien

    Armenien und die Republik Arzach haben verloren, nicht nur Tausende von Toten müssen beklagt werden, es müssen zudem umfangreiche Gebiete in diesem Waffenstillstand an Aserbaidschan abgegeben werden. Die aktuelle Regierung, die nach langen Jahren korrupter Oligarchen an die Macht gekommen ist, muss jetzt den Kopf hinhalten für die Versäumnisse der eher Moskau verschriebenen Vorgängerregierungen. Fast 100 Jahre nach dem Genozid an den Armeniern durch das Osmanische Reich werden Armenier wieder vertrieben nach einem Krieg mit aktiver Beteiligung türkischer Truppen.

    Für die aserbaidschanische Seite ist das Ergebnis ein absoluter Erfolg, man hat faktisch alle Ziele erreicht und noch zusätzlich einen Korridor zu einer Enklave bekommen.

    Der türkische Präsident Erdogan kann einen Erfolg vermelden, der ihm innenpolitisch nutzt und den Großmachtanspruch, oder besser gesagt die Zielsetzung, unterstreicht. Die Türkei hat jetzt einen Landkorridor über Nachitschewan bis nach Baku. Das bedeutet, es stehen bessere Möglichkeiten der Machtprojektion in die turksprachigen Staaten Zentralasiens, als deren Schutzmacht sich die Türkei etablieren will, zur Verfügung. Zudem konnte man neue Waffen aus eigener Produktion ausprobieren und die Fähigkeiten der eigenen Waffenindustrie demonstrieren.

    Der wahre Gewinner ist aber Moskau

    1. Moskau kontrolliert jetzt den Korridor durch Armenien zwischen Nachitschewan und Aserbaidschan. Dies erfolgt über reguläre russische Grenz- und Zolltruppen und nicht durch die „Friedenstruppen“.

    2. Moskau kontrolliert jetzt ganz Karabach als Frozen Conflict Zone. Das Gebiet lässt sich taktisch gut verteidigen und kann damit direkt Druck auf Armenien und Azerbaidschan ausüben.

    3. Als Folge des Krieges wird die westlich orientierte Regierung stürzen und durch eine Kreml-freundliche ersetzt werden.

    4. Innerhalb Russlands wird Türkei = NATO verkauft, auch als Beweis, dass die NATO Russland bedroht. Was Putins harte Haltung gegen Europa und die USA stärkt und damit Rückhalt bei der älteren Bevölkerung sichert.

    5. In Europa kann sich Putin als Friedensstifter verkaufen und den Streit innerhalb der NATO gegen die Türkei anheizen.

    6. Durch das späte „Eingreifen“ Russlands wurde zudem eine deutliche „ethnische Säuberung“ von Artsakh (Karabachs) erreicht. Insgesamt über 100.000 Armenier sind aus Artsakh nach Armenien geflohen und werden vermutlich nicht zurückkehren können, es sei denn, sie sind Moskautreu. Eine ähnliche Strategie wurde von Moskau in Abkhasien und Südossetien verfolgt und in den von Georgien beanspruchten Regionen kriminelle Statthalter installiert. [19] 

    Was heißt das konkret für die deutsche und europäische Position? Zunächst einmal handelt es sich um einen Konflikt vor unserer Haustür. Frankreich und Griechenland haben historisch gesehen ein Interesse, die armenische Seite zu unterstützen. Um allerdings wirklichen Impact zu haben, muss Europa mit einer Stimme sprechen. Man kann sich natürlich, wie die Bundesregierung, in den üblichen beschwichtigenden Floskeln üben, für die unser Außenminister inzwischen in aller Welt gefürchtet ist. Wenn Europa mit einer Stimme spricht, muss der Türkei als Terrorexporteur und Hort der Instabilität in der Region Einhalt geboten werden. Hier ist eine klare rote Linie zu ziehen. Gleichzeitig ist hier auch die Rolle Russlands kritisch zu hinterfragen und entsprechend gemeinschaftlich darauf zu reagieren.

    Quellen/Fußnoten:

    [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Kaukasus

    [2] https://www.zeit.de/2020/42/geschichtskrieg-bergkarabach-putin-erdogan-cyberkriege?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com

    [3] https://ifsh.de/file-CORE/documents/jahrbuch/06/Rasmussen-dt.pdf S. 211

    [4] https://www.diepresse.com/5873675/worum-es-im-konflikt-um-berg-karabach-geht

    [5] https://www.swp-berlin.org/10.18449/2020A71/

    [6] https://www.dw.com/en/russia-to-assist-armenia-if-conflict-with-azerbaijan-spreads-beyond-nagorno-karabakh/a-55457174 

    [7] https://www.insightturkey.com/commentary/the-logic-beyond-lausanne-a-geopolitical-perspective-on-the-congruence-between-turkeys-new-hard-power-and-its-strategic-reorientation

    [8] https://www.geo.de/magazine/geo-epoche/3373-rtkl-osmanisches-reich-der-genozid-den-armeniern-ein-verleugnetes

    [9] https://www.dw.com/de/is-vorstoß-auf-die-kurdenstadt-kobane-aus-der-türkei/a-18101936

    [10] https://rusi.org/commentary/nagorno-karabakh-conflict-and-challenge-georgia#.X57WwK6Mt6A.twitter

    [11] https://www.welt.de/politik/ausland/article216671508/Armenien-verkuendet-nach-schweren-Gefechten-in-Berg-Karabach-Generalmobilmachung.html 

    [12] https://caspiannews.com/news-detail/azerbaijan-turkey-team-up-for-large-scale-military-drills-2020-7-28-58/

    [13] https://www.dw.com/de/macron-in-berg-karabach-kämpfen-dschihadisten-aus-syrien/a-55126426

    [14] https://oc-media.org/reservists-called-up-and-cars-confiscated-as-azerbaijan-condemns-armenian-provocation/

    [15] https://www.tagesschau.de/ausland/bergkarabach-waffen-drohnen-raketen-101.html

    [16] https://www.aspistrategist.org.au/snapshot-of-a-shadow-war-in-the-azerbaijan-armenia-conflict/

    [17] https://en.armradio.am/2020/10/24/turkey-deploys-1200-of-its-mountain-commando-forces-to-fight-against-artsakh-wargonzo/ 

    [18] https://www.derstandard.de/story/2000121532268/bergkarabach-verwirrung-um-einnahme-von-zentraler-stadt-schuschi

    [19] Analyse der AG Außen- und Sicherheitspolitik

  • Putin Forever

    Putin Forever

    Bei der Volksabstimmung in Russland am 01.07.2020 hat sich Präsident Wladimir Putin mit 78,5 Prozent die Regierungsoption bis zum Jahr 2036 (Zar Putin der I) gesichert. Die Möglichkeit, über die „reguläre“ Amtszeit hinaus regieren zu können, wurde geschaffen, indem ein Reset der bisherigen Amtszeiten durch diese Volksabstimmung bestätigt wurde.

    Bis auf eine kurze Unterbrechung nach dem Fall der Sowjetunion hatte Russland keine Erfahrung mit demokratischer Tradition, die Jahre mit Jelzin werden wegen der Wirren dieser Zeit auch nicht gerade geschätzt. Putin ist ein Kind dieser Gesellschaft, der Verlust der Weltmachtstellung wurde nie überwunden. Gorbatschow, den man für den Untergang der UdSSR und somit den Verlust des Supermachtstatus verantwortlich macht, wird ebenfalls nicht geschätzt in Russland.

    Gefragt, was er tun würde, wenn er in der Zeit zurückreisen könnte, antwortete Putin, den Untergang der UdSSR verhindern. Sowohl die Ambitionen in der Ukraine, als auch die Annexion der Krim basieren auf diesem Verlust. Ein russischer Präsident kann es sich faktisch nicht leisten, schwach zu sein oder zu wirken, dies wird nicht akzeptiert.

    Gleichzeitig hat die russische Bevölkerung, auch wenn sie Wechseloptionen hätte, Angst vor Veränderungen. Den aktuellen Herrscher kennt man ja, der ist schon satt, und der nächste muss sich erst einmal die Taschen voll machen.

    Neben der Verlängerung der Amtszeit gab es  weitere Veränderungen, die die Macht des Präsidenten stärken, aber auch russisches  über internationales Recht setzen. So finden sich auch veränderte Regelungen,  die die Integrität des russischen Staatsgebiets festschreiben und beispielsweise die Annektion der Krim nach russischem Recht legitimieren.

    Die Volksabstimmung lief wie in Russland üblich mit größeren Festivitäten, Gewinnspielen usw. umrahmt ab, zuvor noch die verschobene Siegesparade zum 75. Jahrestag des Ende des 2. Weltkrieg. Die Abstimmung an sich wäre auch nicht notwendig gewesen, da Präsident Putin das gesamte Änderungswerk im Parlament bereits bestätigen ließ und auch schon unterschrieben hatte. Durch eine „Volksabstimmung“ bekommt die Verfassungsänderung allerdings noch eine andere Legitimation. Mit einem offiziellen Ergebnis von 78,5%  Prozent ist diese sowjetisch anmutende „Abstimmung“ zu Ende gegangen.

    Faktisch hat sich Putin die Ermächtigung für zukünftige Abenteuer und die entsprechende Zeit geholt, um im Sinne von „Make Russia Great Again“ zu agieren. Putin fühlt sich durch das nationale Trauma ( Zusammenbruch der UdSSR) geradezu gezwungen, Russland wieder zu einer Großmacht zu formen.  Zudem ist in Russland das Bewusstsein, sich als Nachfolgenation des Oströmischen Reiches zu betrachten, tief verwurzelt.

    Was bedeutet das für Europa im Umgang mit Russland und Putin? Zunächst ist es nötig, für europäische Werte zu stehen, weiterhin respektvoll und freundlich miteinander umzugehen, aber auch klare Kante bezüglich der Destabilisierungsversuche, vor allem in Osteuropa und dem Baltikum zu zeigen. Man darf sich hier nicht spalten lassen und muss in Europa fest zusammenstehen, mit einer Stimme sprechen, sowie ein gemeinsames europäisches Geschichtsbewusstsein entwickeln.

  • EGMR: Netzsperren in Russland verstoßen gegen Menschenrechte

    EGMR: Netzsperren in Russland verstoßen gegen Menschenrechte

    Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in seinem gestrigen Urteil die Praxis der Netzsperren in Russland als nicht vereinbar mit den Artikeln 10 (das Recht auf freie Meinungsäußerung) und Artikel 13 (das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren) der Europäischen Charta der Menschenrechte anerkannt.

    Geklagt vor dem EGMR hat Gregory Engels, Beauftragter für internationale Zusammenarbeit und Stadtverordneter der Piratenpartei Deutschland in Offenbach. Er ist Inhaber der Internetdomain rublacklist.net, welche von der Russischen NGO „RosKomSvoboda“ (zu Deutsch: Russisches Komitee für die Freiheit) benutzt wird, um über die russischen Netzsperren ausführlich journalistisch zu berichten. Unter anderem wird dort eine Statistik der von der Russischen Föderation geblockten Webseiten geführt, unter denen auch Internetseiten aus Deutschland sind. 2015 wurde auf dem Portal russischen Internetnutzern erklärt, wie sie mit Hilfe von Anonymisierungsdiensten wie Tor, Proxies oder VPN (Virtual Private Network) die Webseitensperren des staatlichen Überwachungskomitees umgehen können. Daran störte sich jedoch die Russische Justiz: Laut einem Urteil des Stadtgerichts von Anapa würde den Internetnutzern damit die gesamten extremistischen Inhalte des Internets offen stehen. Die Informationen über die Anonymisierungsdienste wurden entfernt und Engels ging durch den Instanzenweg, bis das Verfahren 2016 vor dem EGMR landete.

    Der EGMR entschied, dass die Regelung in der russischen Gesetzgebung, nach der die Websperren nicht nur in Fällen von Kindesmissbrauch, Drogenhandel oder Suizidwerbung verhängt werden können, sondern auch immer dann, wenn ein Gericht entscheidet, dass „bestimmte Internetinhalte Informationen enthalten, deren Verbreitung in der Russischen Föderation verboten ist“ (Föderales Gesetz 149-FZ vom 27 Juli 2006, Artikel 15.1 Paragraph 5), zu weitreichend ist und keine Rechtssicherheit für die Webseitenbetreiter bietet. Die Regelung verstieße außerdem gegen das Prinzip des Verbotes von generellen Netzsperren und Netzfiltern, wie es vom Europarat in 2011 beschlossen wurde und somit auch gegen Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention.

    Des Weiteren hat der EGMR entschieden, dass die Rechtspraxis in Russland, nach der Webseiten massenhaft ohne Anhörung durch einfache Gerichtsentscheidungen geblockt werden, gegen Artikel 13 verstößt.

    „Mit dem heutigen Urteil hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Hürden für Netzsperren viel höher gelegt. Eine Webseite zu sperren ist wie eine Zeitung zu verbieten. Netzsperren wie vom Fließband wird es in Zukunft nicht mehr geben“

    erklärt Gregory Engels die Bedeutung des Urteils.

    Die Piratenpartei tritt für ein freies Internet ohne generelle Netzsperren und Uploadfilter ein.

  • „Staatsinternet“ vor den Türen der EU – RuNet wird Wirklichkeit

    „Staatsinternet“ vor den Türen der EU – RuNet wird Wirklichkeit

    Das Schreckgespenst eines staatlich komplett kontrollierten und überwachten Internets wird ab November auch an der östlichen EU-Grenze Realität. Die russische Regierung wird fortan mindestens einmal jährlich die Internetverbindung des Landes zum Rest der Welt testweise abschalten, um die Funktionalität ihres RuNets zu testen. In den vergangenen Jahren wurden diverse Gesetze eingeführt, die unter anderem ausländische Unternehmen dazu verpflichten, dem russischen Staat Code und Nutzerdaten offenzulegen. Da dies nicht alle Unternehmen freiwillig tun, wie zum Beispiel Telegram, das aufgrund seiner Weigerung in Russland verboten ist, versucht der Staat dies durch die komplette Kontrolle des Datenflusses zu erzwingen. Folglich könnten zukünftig bei Unruhen gegen die Regierung gezielt Plattformen abgeschaltet oder unerreichbar gemacht werden, um die online Vernetzung von Dissidenten zu verhindern.

    Auch in Deutschland gibt es Stimmen, die solche illiberalen Maßnahmen gutheißen. Erst vor einem Monat forderte Thomas Tschersich, Cyberabwehrchef der Telekom, „digitale Grenzkontrollen“, also ein EU-Net nach Vorbild Russlands, welches man vom Rest der Welt abschalten könne. Im Februar sagte Günter Krings, parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium, zur Eröffnung des 22. europäischen Polizeikongresses, dass das Darknet nur in autoritären Staaten nützlich sei, aber in einer „freien, offenen Demokratie … keinen legitimen Nutzen“ hätte.

    „Das Internet ermöglicht uns heute aufgrund seiner Offenheit den Zugang zu Wissen auf der ganzen Welt. Das Netz lässt durch seine Grenzenlosigkeit Menschen zusammenrücken. 50 Jahre nach dem Ursprung des Internets für die Menschen in einem Land ein komplett überwachtes Netz aufzubauen, von dem sich Staaten bemühen, es zusätzlich räumlich zu begrenzen, läuft dem Geist des Netzes zuwider und ignoriert die Errungenschaften der letzten Dekaden, die durch gerade diese Offenheit entstanden sind,“

    konstatiert Sebastian Alscher, Bundesvorsitzender der Piratenpartei Deutschland.

  • Der Ukrainekonflikt und die Straße von Kertsch

    Der Ukrainekonflikt und die Straße von Kertsch

    „Am 25.11.2018 verwehrte Russland ukrainischen Schiffen die Durchfahrt zum Asowschen Meer, und zwar in der Straße von Kertsch, an der 2018 eröffneten Brücke vom russischen Festland zur von Russland 2014 völkerrechtswidrig annektierten Halbinsel Krim.“

    Die deutsche Bundesregierung sagt in einer Erklärung, dass es „keinerlei Beschränkungen der internationalen Seeschiffahrt im Asowschen Meer – vor allem auch nicht zu Lasten der Ukraine und ihrer dortigen Häfen“, durch Russland geben darf.

    Der russisch-ukrainische Vertrag vom 23. Dezember 2003 legt die Straße von Kertsch als „internes Gewässer“ von Russland und der Ukraine fest, in dem beide Seiten das Recht zur freien Durchfahrt haben. Auch müssen, so der Vertrag, zukünftige Streitigkeiten in dem Gebiet zwischen beiden Parteien in einem neuen Vertrag geregelt werden.

    Der Vorfall

    Am 25. November kam es nach ukrainischen Angaben zu einer Enterung ukrainischer Boote durch Russland sowie zur illegalen Inhaftierung ukrainischer Seeleute. Die Ukraine betrachtet diese Seeleute als russische Kriegsgefangene. Die russische Seite dagegen sagt, dass Russland von der Ukraine provoziert wurde. Der russische Geheimdienst FSB hatte am selben Tag aus seiner Sicht eine detaillierte Darstellung des Ablaufs online gestellt. Drei Tage später warf der russische Präsident Putin seinem ukrainischen Amtskollegen vor, die Ukraine hätte den Vorfall provoziert, um die Umfragewerte und Chancen des amtierenden ukrainischen Präsidenten im Vorfeld der am 31. März 2019 stattfindenen Präsidentschaftswahlen zu erhöhen.

    Die Konfliktsituation

    Die Ukraine und Russland befinden sich seit den Vorfällen auf dem Maidan und dem Konflikt im Donbass in einem de facto Krieg. Russland versucht mit einem hybriden Krieg im Donbass die Annäherung der Ukraine an die EU oder gar deren Beitritt zu verhindern. John J. Mearsheimer, einer der führenden US-Vertreter der Theorie des „Realismus“ in den internationalen Beziehungen, weist in einem Beitrag in der US Fachzeitschrift „Foreign Affairs“ von 2014 die Schuld an der Ukraine-Krise hauptsächlich der westlichen Staatengemeinschaft zu. Indem die EU und der Westen der Ukraine die Möglichkeit gäbe, sich der EU anzuschließen, hätte sie die Kerninteressen Russlands nach Sicherheit bedroht und die Reaktion Russlands wäre daher zu erwarten gewesen. Da sich seit 2014 für Russland in der Ukraine keine schnellen militärischen Erfolge ergeben hatten, versuchte Russland vor den Wahlen in der Ukraine ein Signal der Stärke an die russische Bevölkerung zu senden. Die sich verschlechternde Wirtschaftslage in Russland hat dabei ebenfalls eine große Rolle gespielt. Die russischen Hoffnungen auf ein Ende der Wirtschaftssanktionen blieben durch die Wahl von Donald Trump zum US Präsidenten bislang unerfüllt.

    Die Ukraine hatte am 29. November die Genehmigung durch den Patriarchen von Konstantinopel bekommen, ihre nationale orthodoxe Kirche von der Russlands zu trennen. Diesen Schritt sieht die russische Regierung, die die russisch-orthodoxe Kirche wie schon zur Zeit der Zaren, als eine wichtige Legitimation für ihre Herrschaft benutzt, als klare Bedrohung der geistigen Idee des russischen Selbstverständnisses von Herrschaft und Vorherrschaft. Die Aufwertung der ukrainischen Kirche durch den Patriarchen lässt die Ukraine als symbolischen, gleichberechtigten Partner auftreten. Dies wird gleichzeitig als Unterlaufen der „imperialen Idee und des Erbes“ des neuen russischen Staates bewertet. Das putinsche Russland versucht, sowohl aus dem Erbe des russischen Zarenreiches als auch aus dem geistigen Erbe der Sowjetunion, die Legitimation für seine Politik im Inneren zu begründen.

    Die Anerkennung der ukrainischen Kirche war daher, vor allem weil sie nicht völlig überraschend für Moskau kam, sicher einer der Auslöser für Russlands Vorgehen. Hinzu kam, dass die ukrainische Polizei Kirchen und Güter von ukrainischen Bürgern durchsucht und beschlagnahmt, die weiter dem Patriarchen von Moskau folgen wollen.

    Im Rahmen des kommenden ukrainischen Wahlkampfes ist die Abspaltung der ukrainischen Kirche für den ukrainischen Präsidenten ein wichtiges Symbol für die Bewahrung und Förderung der Unabhängigkeit seines Landes. Das umso mehr, da in der orthodoxen Kirche historisch bedingt durch das Vorbild des byzantinischen Reiches, das Zusammenspiel zwischen Kirche und Staat ein viel engeres ist. Insofern dient es viel stärker der Legitimation der weltlichen Herrscher als z.B. die Interaktion der katholischen Kirche mit den Regierungen der meisten westeuropäischen Demokratien. Zwar sind in Russland, wie in der Ukraine, die Kirchen nicht direkt in die Macht eingebunden, doch wirkt hier die in Europa aus dem römischen Reich entwickelte Idee der Verbindung zwischen Staat und Religion und dessen Begründung für die Legitimation der Herrschaft nach. Die Zeitschrift „The Economist“ berichtete in einem Beitrag vom 18.12.2018 über die besonders in Osteuropa immer noch wichtige Rolle der (orthodoxen) Kirchen, sowie deren spezielle Rolle welche sie im russisch-ukrainischen Konflikt besitzen.

    Beide Präsidenten brauchen den Konflikt, um sich in ihren eigenen Staaten als starke Führer in Stellung zu bringen. Schließlich stehen auch in Russland bald Wahlen an. Da beide Staaten weder in der Lage noch bereit sind, die notwendigen Reformen hinsichtlich Liberalisierung und Transparenz der Wirtschaft durchzuführen und so den Lebensstandard der Bevölkerung zu erhöhen, versucht man mit symbolischen Aktionen an das jeweilige Nationalgefühl zu appellieren, um sich so über die Wahlen „zu retten“. Eine direkte Reform der ukrainischen Wirtschaft, welche die Ukraine dringend bräuchte, würde die Oligarchen, die Russland bislang mit ihren bewaffneten Milizen in Schach halten, gegen den ukrainischen Präsidenten aufbringen. Der Konflikt innerhalb der Ukraine sorgt so dafür, dass die Ukraine gesellschaftliche wie auch ökonomische Reformen vertagen und sich dennoch gerade der Sympathien der östlichen EU Länder, vor allem der baltischen Staaten und Polen, weiter sicher sein kann.

    Das Fazit

    Sowohl die Ukraine als auch Russland haben durch die Aufrechterhaltung des Konfliktes demokratische Reformen verzögert/ verhindert und stattdessen den eigenen Machterhalt gesichert. Gleichzeitig unterhält die Ukraine, da sie von Russland bedroht wird, recht enge Kontakte zur EU, welche versucht, ebendiese Reformen in der Ukraine in Gang zu bekommen. Die EU wiederum steht vor dem Dilemma, dass sie den Druck auf die Ukraine zum Start demokratischer Veränderungen, nur schwer aufbringen kann, da die Ukraine einer ständigen Bedrohung durch Russland unterliegt. Gleichzeitig stünde ein Vorgehen, wie von Maersheimer favorisiert und welches man oft in verschiedenen deutschen Aussagen zur Ukraine hört, dass der Westen sich, den russischen Interessen folgend, aus der Ukraine heraushalten soll, in krassem Missverhältnis zum Selbstverständnis der EU. Hat die EU doch im „Vertrag von Lissabon“ klar festgelegt, dass „jeder europäische Staat, der die in Artikel 2 genannten Werte achtet und sich für ihre Förderung einsetzt, beantragen kann, Mitglied der Union zu werden“.

    Demnach kann sich die EU einem Beitritt der Ukraine nicht mehr verweigern, sobald diese die Vorgaben erfüllt
    Der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland wird deshalb so erbittert geführt, weil es um die Legitimation beider Staaten geht. Die EU und der Westen können ihn weder ignorieren noch einen Deal mit Russland auf Kosten der Ukraine machen, da dies wiederum die Legitimation der EU gefährden würde. Allen Akteuren ist völlig klar: In der Politik geht es vordergründig darum, authentisch für das einzutreten, was man als Botschaft im politischen Prozess kommuniziert hat.

  • PIRAT verklagt Russland vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

    PIRAT verklagt Russland vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

    Gregory Engels, internationaler Koordinator und Stadtverordneter der Piratenpartei in Offenbach, ist Inhaber der Internet-Domain www.rublacklist.net, welche von ‚RosKomSvoboda‘ (zu Deutsch: Russisches Komitee für die Freiheit) in Anlehnung an RosKomNadzor (zu Deutsch:Russisches Komittee für Überwachung) genutzt wird. Die Internetseite ging bereits am 01. November 2012 online, am gleichen Tag, an dem in Russland das Gesetz über die Netzsperren in Kraft getreten ist. Das Internetportal ‚RosKomSvoboda‘ hat es sich zur Aufgabe gemacht, über die russischen Netzsperren ausführlich journalistisch zu berichten. Unter anderem wird dort eine Statistik der von der Russischen Föderation geblockten Webseiten geführt, unter denen auch Internetseiten aus Deutschland sind. Darüber hinaus erklärt das Portal russischen Internetnutzern, wie sie mit Hilfe von Anonymisierungsdiensten wie Tor, Proxies oder VPN die Webseitensperren des staatlichen Überwachungskomitees sehr einfach umgehen können. Daran stört sich die russische Justiz. Ein gemeinsames Verfahren zusammen mit dem russischen Oppositionellen Garry Kasparov steht bevor.  Die Piratenpartei Deutschland unterstützt die Klage von Gregory Engels.

    Am 13. April 2015 hat das Stadtgericht von Anapa in der Region Krasnodar im Westen Russlands auf Antrag der Anapaer Staatsanwaltschaft und ohne Gregory Engels vorzuladen oder anzuhören, beschlossen, die Webseite rublacklist.net in die Liste der in Russland zu blockenden Webseiten aufzunehmen, da sie ihren Nutzern „den vollen Zugriff auf die geblockten Webseiten, einschließlich der extremistischen erlaube.“

    Die Administratoren von RosKomSvoboda haben erst offiziell von dem Urteil erfahren, nachdem die Webseite bereits geblockt war und die zufälligen Nutzer über eine juristische Suchmaschine das entsprechende Urteil gefunden haben. Sie haben die Betreiber über diesen Umstand aufmerksam gemacht.

    Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte will die Klage zulassen

    Pirat Gregory Engels hat daraufhin über seinen Anwalt Berufung gegen das Urteil eingelegt, unter dem Hinweis, dass seine Adresse und sonstige Kontaktinformationen auf der Webseite und im Whois angegeben waren und ein Urteil in Abwesenheit gegen ihn seine Grundrechte verletze. Das Regionalgericht in Krasnodar hat die Berufung am 29. September 2016 summarisch abgelehnt. Am 12. April 2016 hat das gleiche Gericht die Revision nicht zugelassen. Am 6. Oktober 2016 hat Engels Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht (Az. 61919/16). Am 5. September 2017 hat das Gericht mitgeteilt, dass es vorläufig gedenkt, die Klage zuzulassen und hat Russland um Stellungsnahme bis zum 15 Januar 2018 gebeten. Am 05. September 2017 hat der EGMR erlaubt, dass ‚RosKomSvoboda‘ und die ebenfalls von der Blockade betroffene Internetseite ‚Access Now‘ als Nebenkläger dem Verfahren von Kharitonov (Az.10795/14) beitreten dürfen.

    Das Verfahren von Engels soll demnach zusammen mit fünf weiteren Verfahren verhandelt werden, die sich alle um verhängte Netzsperren in Russland drehen und Verstöße des Staates Russlands gegen den Artikel 10 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten zum Inhalt haben. Dieses Verfahren stellt ein Novum dar, denn bislang hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sich noch nicht umfassend mit der Zulässigkeit von Webseitensperren befasst. Bei den zusammengelegten Verfahren handelt es sich um die Webseiten von Garry Kasparov, die Nachrichtenportale ej.ru und grani.ru, sowie um eine Webseite, auf der Buchrezensionen veröffentlicht werden. Das gemeinsame Aktenzeichen ist 12468/15.