Schlagwort: Teilhabe

  • Nächste Wahlpanne in Berlin: Freiheit der Wahl eingeschränkt!

    Nächste Wahlpanne in Berlin: Freiheit der Wahl eingeschränkt!

    Dem vorläufigen amtlichen Endergebnis zufolge sind bei der Abgeordneten­hauswahl in Berlin bis zu 200.000 Zweitstimmen für Parteien abgegeben worden, die an der 5%-Hürde gescheitert sind. Dies sind aber nur die vorläufigen Zahlen – die Dunkelziffer dürfte weitaus größer ausfallen

    Viele Wähler:innen trauen sich mit Blick auf die Sperrklausel nämlich nicht, ihre wahren politischen Präferenzen auf dem Stimmzettel auszudrücken, so dass das Wahlergebnis nicht den tatsächlichen Wählerwillen widerspiegelt. Dies hätte verhindert werden können, wenn die Sperrklausel durch eine Ersatz­stim­me ergänzt worden wäre. Dass dies nicht geschah, stellt eine Wahlpanne dar.

    Die Bundesvorsitzende der Piratenpartei, Anne Herpertz, hält das gegenwärtige Wahlsystem für zutiefst unfair:

    „Wähler:innen, die ihre Stimme nicht ver­schenken wollen, fühlen sich unter Druck gesetzt, eine der großen Parteien zu wählen, obwohl sie ganz klar eine kleine Partei bevorzugen. Mit dieser Schere im Kopf gibt es keine echte Freiheit der Wahl. Eine Ersatzstimme hätte dies abfangen können.“ 

    Auch Charlotte Schmid, Bundesvorsitzende der Ökologisch-Demokratischen Partei (ÖDP), zeigt wenig Verständnis dafür,
    dass jetzt wieder über die niedrige Wahlbeteiligung geklagt wird:

    „Ohne die Existenz einer Sperrklausel hätten bestimmt mehr Wahlberechtigte ihre Stimme abgegeben. Mindestens jedoch hätte man mit einer Ersatzstimme denjenigen Gehör verschaffen müssen, die sich mit keiner der im Parlament vertretenen Parteien identi­fizieren können.“

    Steffen Meyer, Spitzenkandidat für Volt in Berlin, ergänzt: 

    „Die Zahl der un­berücksichtigten Stimmen bei dieser Wahl ist größer als die Zahl der Wahl­be­rechtigten in so manchem Bezirk. Man stelle sich vor, alle Stimmen in Pankow würden für die Sitzverteilung nicht zählen. Der Aufschrei wäre riesig. Aber weil es der ‚Sonstige‘-Bezirk ist, passiert nichts. Diese Wahlpanne gibt es schon seit Jahrzehnten; es ist ein Skandal, dass sie bislang nicht behoben wurde.“

    Deshalb fordern Piraten, Volt und ÖDP nun gemeinsam die Einführung einer Ersatzstimme. Bei diesem Wahlsystem können Wähler:innen auf dem Stimmzettel zusätzlich zu ihrer Hauptstimme eine weitere Partei angeben. Falls die Partei, für die die Hauptstimme abgegeben wurde, an der Prozenthürde scheitert, geht die Stimme automatisch an die Partei, die mit der Ersatzstimme versehen wurde. So können Wähler:innen ihre Hauptstimme einer Partei geben, die womöglich an der 5%-Hürde scheitern könnte, und mit der Ersatzstimme eine Partei wählen, die höchstwahrscheinlich den Sprung über die 5%-Hürde schafft. Somit müssten sie sich künftig nicht mehr zwischen einer Wahl aus Überzeugung und einem taktischen Wahlverhalten entscheiden.

    Björn Benken vom Institut für Wahlrechtsreform ist der Ansicht, dass die Zeit für eine solche Wahlrechtsänderung reif ist:

    „Im letzten Jahr haben die Wahl­rechtsexperten von SPD, Grünen und FDP eine Ersatzstimme für die Erststimme empfohlen, um ihr Modell für eine Verkleinerung des Bundestages gerechter zu gestalten. Deshalb wäre es nur logisch, wenn sich diese Parteien jetzt auch für eine Ersatzstimme bei der Zweitstimme stark machen würden. Die Konzepte dafür liegen auf dem Tisch!“

  • Bus und Bahn fahrscheinfrei – ist es jetzt soweit?

    Bus und Bahn fahrscheinfrei – ist es jetzt soweit?

    Oliver Bayer ist Informationswissenschaftler und war von 2012 bis 2017 Mitglied im Landtag NRW. Dort leitete er die von der Piratenfraktion eingebrachte Enquetekommission zu „Finanzierung, Innovation und Nutzung des Öffentlichen Personenverkehrs“

    Ab dem 1. März 2020 können in Luxemburg alle fahrscheinfrei Bus und Bahn fahren. Fahrgäste können dann einfach einsteigen und mitfahren, ohne sich zuvor der Geheimwissenschaft der Tarifgebiete und Ticketwahl gewidmet zu haben. Der Trend zum attraktiveren und fahrscheinfreien ÖPNV scheint ganz Europa ergriffen zu haben. In Deutschland ist die Liste der Städte, die sich mit kleinen Aktionen, Versuchen und Projekten der Idee des fahrscheinfreien Nahverkehrs nähern, mittlerweile so lang, dass ich sie nicht mehr vollständig nennen kann.

    Ist es jetzt soweit? Kommt der fahrscheinfreie Nahverkehr flächendeckend nach Deutschland? Endlich? Gerade noch rechtzeitig, um die Verkehrswende zu schaffen? Um das Klima zu retten?

    Der Weg ist schwierig, obwohl der flächendeckende fahrscheinfreie ÖPNV weder an der Finanzierung noch an der Umsetzbarkeit scheitert. Der Journalist Lukas Hermsmeier hat mit mir ein Interview über meine Erfahrungen beim Revolutionieren des ÖPNV-Systems gemacht und dabei ziemlich gut die politischen Hürden, die sich dem fahrscheinfreien Nahverkehr in den Weg stellen, zusammengefasst.

    Die Reihe der „Was Wäre Wenn“-Redaktion zum „kostenlosen“ öffentlichen Nahverkehr ist übrigens auch ansonsten lesenswert.

    Hintergrund und Historie:

    Als die PIRATEN im Jahre 2010 auf einem Landesparteitag in Korschenbroich den „Modellversuch für einen Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) zum Nulltarif“ in ihr Wahlprogramm zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen aufnahmen, war die Idee nicht neu. Aber wir haben diese Idee ab 2011 mit dem Wahlprogramm für Berlin und ab 2012 in NRW nicht nur weiterentwickelt: Wir haben sie zum Mittelpunkt unserer Verkehrspolitik gemacht und in unser politisches Gesamtkonzept eingefügt.
    Die Grundprinzipien und Ziele der Piratenparteien sind Freiheit, Fortschritt und Teilhabe (oder die 3 F: „Freiheit. Fortschritt. Für Alle.“) und das ist auch die Art und Weise, wie PIRATEN Verkehrspolitik machen die Verkehrswende gestalten wollen. Wie schön, dass da der fahrscheinfreie Nahverkehr so gut passt und wie gut, dass er sich als genau das richtige Instrument entpuppt hat, um die Klima-, Mobilitäts-, Technologie-, Teilhabe-, Gesundheits-, Entwicklungs- und Wohlstandsziele zu erreichen, die unsere gegenwärtige Gesellschaft – ganz objektiv gesehen – unbedingt braucht.

    Der massive Ausbau und die massive Attraktivitätssteigerung des ÖPNV sollten die Schlüsselelemente für die dringend notwendige Verkehrswende sein. Das hatte nicht nur zur Folge, dass das Konzept des fahrscheinfreien Nahverkehrs 2011 und 2012 durch Plakate und Medienberichte bekanntgemacht und populär wurde. Wir nutzten unsere Ressourcen, um Grundlagen zu erarbeiten und lieferten vor allem in den Landtagen Ergebnisse, die allen, die am fahrscheinfreien ÖPNV arbeiten wollen, noch heute helfen können.

    In Berlin entstand eine Grundlagen- und Machbarkeitsstudie zum fahrscheinlosen ÖPNV, die durch die Berliner Besonderheit, gleichzeitig Stadt und Bundesland sein zu können, auch in den Berechnungen ins Detail gehen kann. In NRW initiierte die dortige Piratenfraktion eine Enquetekommission zu „Finanzierung, Innovation und Nutzung des Öffentlichen Personenverkehrs“, die ich über zwei Jahre geleitet habe. Den Bericht der Kommission ergänzte die Fraktion durch eine Machbarkeitsstudie „Bus und Bahn #fahrscheinfrei NRW“ mit den Beispielstädten Wuppertal, Bad Salzuflen und dem Kreis Recklinghausen.
    Darüber hinaus gab es in den letzten fast 10 Jahren „Bus und Bahn fahrscheinfrei bei den Piraten“ zahlreiche Veranstaltungen und Vorträge. Es entstanden Faktenchecks und Erklärvideos. In den Landtagen und Räten wurden Konzepte entworfen und Anträge gestellt. Einige der Studien, Videos und Materialen wurden hier gesammelt.
    In vielen Kreistagen und Stadträten in ganz Deutschland konnten PIRATEN kleine Erfolge erzielen und andere Politikerinnen und Politiker für die Konzepte gewinnen. Die zahlreichen kleinen Fortschritte, symbolischen Fahrscheinfrei-Tage und Modellprojekte gehen vielfach auf die Arbeit der PIRATEN vor Ort zurück.

    Anfangs wurden die PIRATEN von allen Parteien für die Idee ausgelacht. Nicht, weil sie nicht verstanden wurde, sondern um sie klein zu halten.
    In den folgenden Jahren ernteten wir in den Landesparlamenten, Kreistagen und Stadträten mehr und mehr Respekt, weil wir den fahrscheinfreien Nahverkehr als Lösung für viele Probleme präsentieren konnten:
    Im Rahmen der sozialen Fürsorge, Teilhabe, Mobilität für alle, Verkehrsfinanzierung, Schließung von Finanzierungslücken, Aufhalten des Verkehrskollaps, Gesundheit, Bequemlichkeit. Eines ließen wir oft unter den Tisch fallen, weil es die meisten unserer politischen Mitstreiter in anderen Parteien kaum interessierte: den Umwelt- und Klimaschutz. Der Umweltschutzgedanke schien uns zwar wichtig, aber verbraucht und als Argument zu unwirksam, um politisch zu überzeugen.

    Unter anderem durch das Aufbegehren unserer Jugend, haben wir heute die Chance, dass Klimaschutz endlich auch politisch ernst genommen wird. Natürlich gehören eine richtige Verkehrswende und damit ein massiver Ausbau des ÖPNV zu den wesentlichen Maßnahmen, die für eine Klimawende dringend notwendig sind. Wenn dadurch die anderen Ziele des fahrscheinfreien ÖPNV quasi nebenbei miterreicht werden oder dabei helfen, die Verkehrswende umzusetzen, dann haben wir alle gewonnen.
    Ich denke, die Piratenpartei hat mit ihrer nun fast zehnjährigen Arbeit am fahrscheinfreien ÖPNV einen guten Beitrag zur Realisierung dieser Aufgabe geleistet.

  • Regierung versagt bei eSport-Förderung

    Regierung versagt bei eSport-Förderung

    Vergangenen Mittwoch wurden im Sportausschuss des Bundestages Experten im Bereich eSport angehört. Erneut flammte die Debatte über die Förderungsmöglichkeit des virtuellen Sports auf. Die eSport-Szene kämpft bereits seit Jahren um Anerkennung für ihre Arbeit. Die neuerliche Ablehnung seitens der Regierungsparteien ist eine Demütigung für die Szene.

    „Erst wird uns eSportlern im Koalitionsvertrag Anerkennung versprochen, wenn es dann aber an die Umsetzung geht, ziehen sich die Regierungsparteien aus der Verantwortung. Wir lassen uns nicht gerne zum Stimmenfang missbrauchen. Die Anerkennung ist ein wichtiger Schritt, um sich dem Wandel des Sports anzupassen. eSport ist da, eSport existiert.“

    kommentiert Christoph Schönfeld, Themenbeauftragter eSport der Piratenpartei.

    In fast jeder großen deutschen Stadt existieren heute gemeinnützig-handelnde Vereine, die den eSport voranbringen und für eSportler eine Heimat darstellen. Eine entsprechende Anerkennung dieser Arbeit, auch im steuerrechtlichen Sinne, ist längst überfällig und wird von der Piratenpartei gefordert. Mit dem eSport Bund Deutschland (ESBD) existiert auch eine Interessensvertretung der eSportler, die Vereinsstrukturen sind ausgeprägt wie noch nie zuvor.

    Die Ablehnung von eSport im allgemeinen aus Gründen der angeblichen Gewaltverherrlichung ist für die Piratenpartei nicht nachvollziehbar. Eine Korrelation zwischen Gewalt in Videospielen und der Realität ist wissenschaftlich bereits mehrfach ausgeschlossen worden, das belegen auch neueste Ergebnisse.

    „Gewalt ist klar abzulehnen, das gilt aber nicht nur für den eSport, das ist ein Grundsatz, den wir auch im traditionellen Sport anlegen sollten. Der Mythos, dass Ego-Shooter gewaltätig machen, ist wissenschaftlich nicht haltbar, eine Trennung des eSports ist hier also auch völliger Irrsinn. Wir müssen mit dem Fortschritt gehen und ein Signal an die jüngeren Generationen senden,“

    so Schönfeld weiter.

    Die Piratenpartei setzt sich für eine Gleichberechtigung des eSports zum traditionellen Sport ein. eSport zeigt viel Potenzial, um gemeinschaftliche Strukturen zu schaffen und den Sport ins 21. Jahrhundert zu bringen.

  • Neujahrsansprache 2019

    Neujahrsansprache 2019

    Liebe Freunde,

    das Jahr geht zu Ende und ich möchte die Gelegenheit nutzen, zurückzuschauen und ein paar meiner Gedanken zu teilen.

    Ich beobachte, dass der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft schwindet. Immer häufiger scheint uns das zu fehlen, was uns zusammenhält. Unsere gemeinsamen Werte, eine gemeinsame Basis. Dabei ist es so einfach – wir kennen diese gemeinsamen Werte aus unserem Grundgesetz. Unsere Verfassung ist unsere gemeinsame Basis, nach der wir leben wollen; die demokratisch-freiheitliche Grundordnung und die Strukturen, die diese beschützen. Unsere Gesellschaft ist also eine demokratische und eine freiheitliche. Damit verbunden ist, die Menschenwürde zu achten, dem Demokratieprinzip und der Rechtsstaatlichkeit zu folgen.

    Und wo stehen wir da am Ende des Jahres 2018?
    Die Menschenwürde zu achten und zu schützen sollte für uns stets das höchste Gut sein. Ohne seine Würde kann der Mensch nicht Mensch sein. Wenn ein Mensch sogar schon um seine Würde kämpfen muss, dann fehlen ihm die Ressourcen, um ein Leben nach eigenen Vorstellungen zu leben. Er ist nicht mehr selbstbestimmt. Diese Selbstbestimmtheit ist aber gleichzeitig die Voraussetzung für Individualität und Persönlichkeit.

    Wie sah es aus mit der Menschenwürde in Deutschland, wie mit den Möglichkeiten, aus sich das zu machen, was man 2018 wollte?
    Noch immer wird das ALG2 an Auflagen geknüpft, und es wird eine Versorgung sanktioniert, die gerade zum Leben reicht. Selbst wenn diese Grundversorgung sichergestellt wäre, würde dies auch nicht ausreichen, uns frei entwickeln zu können. Dafür wären freier Zugang zu Information, zu Wissen und Bildung nötig. Hier sind wir – um es nett zu sagen – in 2018 keinen Meter vorangekommen. Wenn wir so weitermachen, dann werden wir den Anforderungen des digitalen Wandels nicht gerecht. So haben wir zum Beispiel nicht die Möglichkeit, uns durch flexible Weiterbildung auf Veränderungen vorzubereiten. Hier ist noch einiges an Reformen nötig, sei es in Bezug auf unser Bildungssystem oder auch in Bezug auf Medienkompetenz. Vieles blieb im letzten Jahr liegen, das man hätte angehen müssen.

    Wie steht es um unsere für die Demokratie wichtigen politischen Institutionen?
    Schauen wir die Parteien im Bundestag an. Vielfach beklagten die Menschen den Einzug der AfD in die Parlamente. In der Tat ist es unrühmlich, dass dort jetzt eine Partei mit einer solchen Nähe zu rechtstotalitären Gesellschaftsvorstellungen sitzt. Mindestens ebenso bedauerlich ist aber der Zustand der Parteien, die die Gesetze für dieses Land verabschieden sollen. Sie stellen die Mehrheit, und ihre Aufgabe ist es auch, ein Gegengewicht zu dieser Partei zu sein, aber wir sehen bei kaum einer der Parteien Stabilität. Es gab bei so gut wie allen Vorstandswechseln laute und heftige innerparteiliche Auseinandersetzungen und Identitätskrisen.

    Wie steht es um den Schutz unserer Freiheitsrechte als Bürger? Wie ist die Balance zwischen Freiheit und staatlicher Autorität?
    In vielen Bundesländern wurden Verfassungsänderungen beschlossen und Polizeigesetze geändert mit dem Ziel einer Ausweitung der Macht und der Befugnisse von Bund und Ländern. Der langjährige Traum der Innenminister wurde Wirklichkeit: Die Landesregierungen erweiterten die Einsatzmöglichkeiten umfangreicher Abhörmaßnahmen, ermöglichten DNA-Analysen für erkennungsdienstliche Maßnahmen bei geringstem Verdacht sowie Präventivhaft von drei Monaten und hoben die vorherige Gleichbehandlung von Bürgern und Polizisten wieder auf. Aus gutem Grund bestimmten unsere Vorväter, dass es keine ausgeprägte Machthierarchie zwischen Polizei als ausführendem Arm des Staates und seinen Bürgern geben soll, dass beispielsweise Polizisten genauso zu behandeln seien wie „normale“ Bürger. Nun gelten Polizisten als schützenswerter. Bürger und Staat begegnen sich nun nicht mehr auf Augenhöhe. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch die zunehmende Militarisierung der Polizei. Immer mehr Polizeipanzer wurden angeschafft, über eine Ausstattung mit Handgranaten wurde nachgedacht, auch vor dem Errichten einer Zensurinfrastruktur wird nicht mehr halt gemacht. Die regierenden Parteien treten auf Europaebene dafür ein, dass in Zukunft Filter Einfluss darauf nehmen, wie wir Daten verteilen. In Deutschland wurde das Netzwerkdurchsetzungsgesetz bereits auf nationaler Ebene vorangetrieben.

    Und die Gerichte?
    Glücklicherweise erweist sich regelmäßig das Verfassungsgericht als letzte Bastion. Gleichzeitig stelle ich aber auch fest, dass viele Gerichte aufgrund der Menge der Verfahren schlichtweg überlastet zu sein scheinen. Und die wichtige Diskussion, wie wir mit Personen umgehen wollen, für die unser Mechanismus zur Bestrafung schlichtweg nicht funktioniert, hat noch keiner angestoßen.

    Was ich beschrieben habe, sind alles Veränderungen unserer demokratischen Rahmenbedingungen, am System – wie sich das institutionelle Umfeld verändert hat, wie sich unsere Rechtslandschaft verändert hat. Eine solche Veränderung hat immer auch Auswirkungen auf uns Menschen.
    Und deswegen verwundert es mich nicht, dass wir es mehr und mehr an Respekt im Umgang miteinander vermissen lassen. Dass wir häufiger in Konfrontation gehen, anstatt vor einer Antwort die Argumente des anderen anzuhören und zu hinterfragen.

    Aber wir haben uns auch viel vorgenommen. Mit „demokratisch-freiheitlich“ legen wir uns auf das juristisch wie emotional schwierigste Modell fest. Denn freiheitlich bedeutet, andere Lebensentwürfe und Meinungen zuzulassen und auszuhalten. Dass wir Minderheiten schützen und nicht in einem Willen der Gleichmacherei zum Verstummen bringen. Dass wir Vielfalt erlauben. Im Grunde genommen auch, dass wir sie als wertvollen Beitrag zum Diskurs anerkennen. Demokratisch drückt gleichzeitig die Ablehnung totalitärer Bestrebungen aus. Es verstärkt das „freiheitlich“ dahingehend, dass wir auch die Möglichkeit zum Ausdruck der Verschiedenheit zulassen.

    Als Gesellschaft können wir dem also nur gerecht werden, wenn wir Meinungen aushalten auch wenn wir das nicht möchten. Das führt natürlich zu Reibungen, man wird quasi aus der emotionalen Komfortzone geschoben. Wird dem ein Riegel vorgeschoben, der möglicherweise aus der Norm fallende Meinungen unterbinden würde, scheint das Leben einfacher. Aber das wäre es eben nur für einen Teil unserer Gesellschaft. Der andere Teil würde letzten Endes ein Leben in Unterdrückung leben. Etwas, das man für sich selbst ablehnen würde, wogegen man kämpfen würde und müsste.

    Damit ist also unsere wichtigste „Kampflinie“ nicht entlang politischer Meinungen – also eher links oder rechts, befürworte ich eine konservative Weltanschauung oder eine progressive, übergewichte ich Bedarfsgerechtigkeit oder eher Leistungsgerechtigkeit. Nein – dieses Diskutieren und Verhandeln von Argumenten und Positionen gehört zu einer freiheitlichen Demokratie. Dieser Demokratie, die uns vereint in den Werten unseres Grundgesetzes, in Achtung der unantastbaren Würde jedes Menschen und seiner Freiheitsrechte.
    Dass wir diese Freiheit schützen ist zwingend notwendig, noch bevor wir über Positionen verhandeln, die sich auf beispielsweise Gerechtigkeitsfragen beziehen. Denn letzten Endes müssen wir erreichen, dass eine erarbeitete Lösung und ein gefundener Kompromiss von der gesamten Gesellschaft getragen wird. Und das passiert nur, wenn alle das Gefühl haben, ihr Wort und ihre Argumente in die Diskussion einbringen zu können.

    Unsere wichtigste Kampflinie verläuft zunächst entlang der Frage, welches Ausmaß an Autorität oder totalitärem Verhalten wir zulassen. Wieviel Freiheit erlauben wir, die Lebensentwürfe zu leben, die es in der Gesellschaft gibt. Wieviel Freiheit erlauben wir, um unsere Meinungen und Kreativität zum Ausdruck zu bringen. Das Risiko am beispielsweise rechten Rand liegt nicht in einer abweichenden Ansicht zur Verteilung von Wohlstand oder Aufenthaltsrechten. Es liegt in (ultra-)autoritären/totalitären Tendenzen. Im Gleichmachen, im Verbieten und Unterdrücken von Lebensentwürfen und Meinungen, die nicht den eigenen entsprechen. Dem Ausschließen von dem, was uns als Gesellschaft verbindet, was uns zum Teil der Gesellschaft macht: Der Möglichkeit sich einzubringen.
    Wir müssen also dafür kämpfen, dass diese Freiheit uns allen bestehen bleibt. Und zwar sowohl gegenüber unserem Staat als auch im menschlichen Miteinander, als Mitglieder der Gesellschaft.

    In diesem Sinne möchte ich allen danken, die sich im letzten Jahr dafür eingesetzt haben und für diese Freiheit gekämpft haben. Die ihre Zeit dafür gegeben haben, die ihre finanzielle Unterstützung beigetragen haben, damit wir uns die Errungenschaften beziehungsweise die Lehren des letzten Jahrhunderts erhalten. Vielen Dank für Euren Einsatz. Vielen Dank von Herzen für Euer Engagement.

    Euer Sebastian Alscher
    Bundesvorsitzender der PIRATENPARTEI Deutschland

  • Digitales Barcamp: Gesellschaft und BGE

    Digitales Barcamp: Gesellschaft und BGE

    Am 26. und 27. Januar plant die Piratenpartei ein erstes digitales Barcamp zum bedingungslosen Grundeinkommen (BGE), einer Forderung, die wir schon lange im Programm haben und über die nicht nur in Deutschland immer häufiger diskutiert wird.

    Dazu gibt es am 14. Januar ein Vorbereitungstreffen, um folgende formale Fragen zu klären:

    • Was ist das Prinzip eines Barcamps?
    • Wie kann das digital funktionieren?
    • Wie kann ich mich im Vorfeld einbringen?

    wann: 14.01.2018 um 21:00 Uhr
    wo: Mumble NRW, Raum Dicker Engel*

    Für inhaltliche Fragen und Anregungen zur Ausgestaltung des Barcamps steht euch Dr. Michael Berndt, BGE Fachbeauftragter der AG Sozialpolitik, auch außerhalb dieser Vorbereitungsveranstaltung zur Verfügung.
    Schreibt an presse@piratenpartei.de

    * Mumble ist eine freie und kostenlose Sprachkonferenzsoftware. Um Mumble-Räume betreten und mit anderen Mumble-Teilnehmern kommunizieren zu können, muss der Mumble-Client heruntergeladen und auf dem eigenen Recher installiert werden.

    Eine einfach verständliche Anleitung findet ihr hier.

  • Arbeit 4.0 – Eine Standortbestimmung

    Arbeit 4.0 – Eine Standortbestimmung

    Pünktlich zum 1. Mai, dem sogenannten Arbeiterkampftag, häuften sich mal wieder Meldungen aus dem Ressort Arbeitspolitik: der WDR deckt auf, dass die Arbeitslosenstatistiken gnadenlos geschönt sind, die Gewerkschaften sind gegen ein Bedingungsloses Grundeinkommen, die CDU jubelt über 600.000 Menschen mit neuem Job und die FDP betont, dass Menschen, die in ihren Augen leisten, mehr Geld haben müssen als Minder- oder Nicht-Leister. Also eigentlich alles wie immer.

    Dennoch lohnt ein näherer Blick auf diese Meldungen, um eine Standortbestimmung durchzuführen. Sind wir schon bei Arbeit 4.0? Oder verharren jene, die sich professionell mit Arbeitspolitik beschäftigen sollten, mit ihrem Denken immer noch im geistigen Mittelalter?

    Unser Verständnis und unser Begriff von Arbeit stammen tatsächlich noch aus dem Mittelalter, aus einer calvinistischen Denkweise, die sich am besten mit dem Satz „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ beschreiben lässt. Getreu diesem Motto ließ die FDP mitteilen, dass selbstverständlich Menschen, die nicht arbeiten, weniger Geld im Monat haben dürften als Menschen, die werktätig sind. Dies klingt vielleicht auf den ersten Blick logisch, jedoch wissen wir leider aus langer leidvoller Erfahrung mit der Politik der FDP, dass diese nur einen sehr engen Begriff von Arbeit hat. Das Pflegen von Angehörigen, ehrenamtliche Betätigung aber auch künstlerische, nicht auf den Markt orientierte Tätigkeiten fallen bei ihr nicht darunter.

    Bezeichnenderweise müssen in der Logik der FDP nicht nur nicht-arbeitende Menschen mit wenig Geld zufrieden sein. Auch, dass arbeitende Menschen mehr Geld erhalten müssten, kommt der FDP selten in den Sinn, denn diese Forderung würde sich ja überwiegend gegen ihre Stammklientel, die Arbeitgeber richten. Dass es unter diesen auch zahlreiche schwarze Schafe gibt, die mies zahlen, am Mindestlohn tricksen und am liebsten billigere Arbeitskräfte aus Übersee einstellen würden, wird nicht erwähnt.

    Sogar halbe Staatsunternehmen sind da leider nicht ausgenommen, wie die Deutsche Post mit ihren neuen Richtlinien zur Entfristung von Arbeitsverträgen eindrucksvoll beweist.

    Wenigstens da hat die CDU mal Empörung angemeldet, ist sie doch sonst eher der FDP marktgläubige Schwester im Geiste. Mein schwarzes Pendant AKK freut sich nämlich derweil über: „600.000 Erwerbstätige mehr als vor einem Jahr. […] hinter dieser Zahl stehen über 600.000 Menschen mit ihren Familien.“
    Leider spricht die Kollegin kein Wort darüber, ob diese 600.000 Menschen die erwähnten Familien von diesem Job überhaupt ernähren können, sie glücklich in ihrem Job sind und wie sehr sie vorher von Arbeitsagentur und Jobcenter drangsaliert wurden. Arbeit an sich wird zu einem Wert verklärt, unabhängig von deren Sinnstiftung oder sekundären Auswirkungen.

    Währenddessen aus der Ecke der Gewerkschaften: eine Absage an das Bedingungslose Grundeinkommen. Ja, das ist eine Utopie mit vielen Fragezeichen. Ja, wir werden uns sehr detailliert darüber unterhalten müssen, ob und wenn ja wie dies gehen kann. Ja, es wäre eine absolute Revolution und echtes Neuland. Aber das ist ja mit Paradigmenwechseln immer so.

    Ich jedenfalls habe den Eindruck, dass die Gewerkschaften, die sich rein beruflich schon ein bisschen auskennen sollten, noch weniger vom Bedingungslosen Grundeinkommen verstanden haben als Ottonormalleser.

    Korrekt haben die Gewerkschaften erkannt, dass sich der Mensch (unter anderem) durch Arbeit definiert. Gerade deshalb ist es so wichtig, sinnstiftende, nachhaltige Tätigkeiten auszuführen, die man sich ausgesucht hat, in denen man aufgeht, die einem liegen und leicht von der Hand gehen. Es geht genau darum, nicht mehr jeden Scheißjob annehmen zu müssen, bloß um Miete und Lebensmittel zahlen zu können. Es geht darum, nicht mehr morgens mit Bauchschmerzen aufzustehen und sich auf den Arbeitsweg zu zwingen. Es geht darum, sich abends im Spiegel ansehen zu können, ohne zu würgen.

    Eben weil die meisten Menschen nicht glücklich sind, wenn sie daheim hocken und nichts tun, besteht zumindest eine theoretische Chance, dass sie sich auch mit einem Bedingungslosen Grundeinkommen oder ähnlichen Konstrukten wieder eine Beschäftigung suchen. Eben weil diese „den Alltag strukturiere, für Teilhabe und sozialen Zusammenhalt sorge“.

    Noch nicht belegt ist auch das Argument, dass „mit Anstrengung verbundene, aber nützliche Dienstleistungen“ Gefahr laufen würden, nicht mehr vollbracht zu werden. Zuallererst einmal würden diese nützlichen Dienstleistungen deutlich besser bezahlt und im gesellschaftlichen Ansehen aufgewertet werden müssen, damit sie jemand tut. Darin kann ich nichts Schlechtes erkennen.

    In diesem Zusammenhang lohnt auch ein Blick nach Finnland, wo angeblich das Grundeinkommens-Experiment abgebrochen wurde, weil es gescheitert ist. Glaubt man der verantwortlichen Studienleiterin, ist die Sachlage allerdings eine andere. Auch die finnische Botschaft sah sich zu einem Statement genötigt. Trotzdem bleibt aber der fade Nachgeschmack, dass hier bereits das Ergebnis (also die Nicht-Fortführung) vorweggenommen wird und stattdessen ohne wissenschaftliche Basis eine politisch opportune Agenda durchgezogen wird.

    Der WDR meldet inzwischen wenig überraschend, dass die Arbeitslosenstatistiken seit Jahren geschönt und aufgehübscht werden, um vorzeigbar auszusehen. Nicht, dass dies dem interessierten Bürger nicht seit Jahren bekannt wäre – nur eben etwa zweimal jährlich zur Vorstellung der Statistiken ploppt’s halt hoch.

    Alles in allem: wo stehen wir denn nun? Ich fürchte leider: noch ganz am Anfang. Der Weg, das Verständnis von Arbeit, die Definition von Arbeit, zu wandeln, ist ein langer und steiniger. Wenn wir als Gesellschaft nicht aufpassen, wird uns dieser Wandel überrollen.

    Deshalb haben wir Piraten uns von höherem Mindestlohn über Streichung der Hartz-IV-Sanktionen bis zum Bedingungslosen Grundeinkommen Forderungen ins Programm geschrieben, die ein menschenwürdiges Dasein ermöglichen. Solange Arbeitgeber und Regierung nicht einsehen, wie notwendig Veränderungen hier sind, gehen wir nicht weg und fordern weiterhin ein, was nötig ist, damit wirklich alle in diesem Land gut und gerne leben können.
    Die Geschichte der Arbeit hat gezeigt, dass ihre Transformationen vielleicht zu verlangsamen waren, jedoch niemals aufzuhalten. Die Arbeitswelt – und mit ihr unser gesamtes Zusammenleben – wird sich ändern. Es ist an uns, diese Änderungen aktiv zu gestalten, solange wir darauf noch Einfluss haben.

  • GroKo-Angriff auf Wählerwillen und Meinungsvielfalt: Piraten wollen geplante Sperrklausel zur Europawahl stoppen

    GroKo-Angriff auf Wählerwillen und Meinungsvielfalt: Piraten wollen geplante Sperrklausel zur Europawahl stoppen

    Zwei Millionen nicht repräsentierte Wählerstimmen, ein Europaparlament ohne Piratenpartei, Freie Wähler, Tierschutzpartei, zusätzliche Abgeordnete für CDU/CSU und SPD – so wäre die Europawahl 2014 nach jenen Spielregeln ausgegangen, die die Bundesregierung am Dienstag im EU-Rat für künftige Europawahlen durchdrücken will.

    Nachdem das Bundesverfassungsgericht wiederholt Versuche der Großen Koalition gestoppt hat, die Abbildung des Wählerwillens im Europaparlament durch eine Sperrklausel zu behindern und sich gleichzeitig selbst mehr Sitze zuzuweisen, will Bundeskanzlerin Merkel die Karlsruher Urteile nun durch Vorgaben aus Brüssel aushebeln. Die erst gestern veröffentlichte Vorlage für die Ratssitzung am Dienstag soll größere Mitgliedstaaten zur Einführung einer Sperrklausel zwischen 2 und 5 % bei künftigen Europawahlen verpflichten. Nur das selbst nicht betroffene Belgien leistet noch Widerstand, wird von der deutschen Bundesregierung aber extrem unter Druck gesetzt.

    „Wir prüfen rechtliche Schritte gegen diesen Angriff auf unser Grundgesetz und den Wählerwillen, insbesondere einen Antrag auf einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts“

    erklärt Carsten Sawosch, Bundesvorsitzender der Piratenpartei.

    „Millionen von Wählerstimmen unter den Tisch fallen lassen zu wollen, nur um sich selbst mehr Posten zu besorgen – das ist skrupellos. Unsere Europaabgeordnete Julia Reda wird von Politico oder Forbes zu den einflussreichsten Europaabgeordneten gezählt. Sie ist die anerkannte Stimme der Internetnutzer im Kampf um ein modernes Urheberrecht und für digitale Freiheitsrechte in Brüssel. Solche Expertise darf Europa nicht verloren gehen – dafür werden wir Piraten kämpfen.“

    Die von Berlin vorgeschobene Gefahr einer Zersplitterung des EU-Parlaments hat schon das Bundesverfassungsgericht nicht gesehen, zumal sich 5 der 7 deutschen Einzelmandatsträger einer der großen EU-Parlamentsfraktionen angeschlossen haben.

  • Frauenpolitik: viel Luft nach oben

    Frauenpolitik: viel Luft nach oben

    „Unsere Leistungsgesellschaft ist eine Gesellschaft, in der nicht nur Leistung gilt, sondern eine, welche bestimmt, was Leistung ist und wer sie leisten darf.“
    Gerhard Uhlenbruck

    Frauenpolitisch ist in den letzten Jahren sehr viel erreicht worden. So ist es heute eine weitgehende Selbstverständlichkeit, dass Frauen einer Erwerbsarbeit nachgehen können. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte lautet: Frauen müssen fast ausnahmslos arbeiten gehen, weil sie entweder alleinerziehend sind oder ein Einkommen nicht ausreicht, um eine Familie mit Kindern zu versorgen. Allein die Mietpreise in den Ballungsgebieten sind horrend.

    Die politische Ausrichtung der derzeitigen Frauenpolitik ist absolut einseitig. Sie sieht fast ausschließlich vor, dass Frauen einer Erwerbsarbeit nachgehen können und müssen. Alternativen dazu sind eher nicht vorgesehen. „Lebe wie ein Mann“ lautet das Motto, Karriere und 60- bis 80-Stunden-Woche inklusive.

    Nur damit keine Missverständnisse aufkommen: Jede Frau, die wie ein Mann leben möchte, muss das tun können. Weder ein geringeres Einkommen bei gleicher Leistung noch eine gläserne Decke sind auch nur ansatzweise akzeptabel. Doch was ist mit den Frauen (und auch Männern), die kein solches Arbeitspensum leisten können oder wollen, weil sie – gerade auch als Eltern – ihrer erzieherischen Verantwortung nachkommen möchten?

    Zu viele Frauen, die Kinder haben, werden von dieser politischen Einseitigkeit enorm unter Druck gesetzt. Mit Konsequenzen, die für die Gesellschaft auf Dauer nicht gut sein können. So häufen sich in letzter Zeit Berichte, in denen Personal von KiTas und Schulen davon erzählt, dass immer öfter kranke Kinder – selbst mit hohem Fieber – morgens in den Einrichtungen abgeliefert werden. Rufen Lehrer oder Erzieher bei den Erziehungsberechtigten an und teilen ihnen mit, dass ihr Kind krank ist und abgeholt werden muss, müssen sie immer öfter diesen Umstand mit den Verantwortlichen diskutieren. Und meist bekommen sie folgende Antwort zu hören: „Ich bin auf der Arbeit und kann hier nicht so einfach weg.“

    Sicher, man kann es sich jetzt sehr leicht machen und vermeintlich „verantwortungslose“ Eltern dafür schelten. Dies ist allerdings viel zu kurz gegriffen. Die Frage muss eigentlich lauten: Was treibt Eltern dazu, ihre kranken Kinder nicht zu Hause zu lassen, sondern in die Einrichtungen zu schleppen?
    Die Antwort liegt auf der Hand. Aktuelle Studien zeigen, dass sich immer mehr Menschen krank zu ihrer Arbeitsstelle zwingen aus Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Und es ist genau diese Angst, die die Erziehungsberechtigen dazu bringt, mit ihren kranken Kindern genauso zu verfahren.

    Was bedeutet es für die Kinder, wenn sie – krank wie sie sind – nicht zu Hause bleiben können und gepflegt werden? Welches Weltbild wird ihnen vermittelt und wie werden sie als Erwachsene mit dieser Erfahrung umgehen?

    Der ökonomische Druck, der insbesondere auf der Gruppe der Alleinerziehenden lastet, ist aus kinder- und jugendpolitischer Sicht vollkommen inakzeptabel geworden und führt zu genau solchen Auswüchsen. Denn ein Verlust des Arbeitsplatzes würde insbesondere für diese Gruppe ein soziales Desaster führen. Da die meisten von ihnen (mit weit über 80%) Frauen sind, ist das auch aus frauenpolitischer Sicht ein Irrweg.

    Frauenpolitik bedeutet seit einigen Jahren nur noch, möglichst viele Frauen in Arbeit zu bringen. Unbestritten: Jede Frau, die Kinder hat, aber dennoch einer Erwerbstätigkeit nachgehen möchte, muss dies tun können. Dazu müssen entsprechende Einrichtungen zur Verfügung stehen.
    Aber wir müssen weg von dem Zwang, dass Frauen grundsätzlich um jeden Preis arbeiten und ihre Kinder in Einrichtungen abgeben, nur um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Denn bei der Grundhaltung „Frauen müssen grundsätzlich wie Männer arbeiten“ wird übersehen, dass nicht jede Frau so leistungsstark ist, den Balanceakt Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Statt dessen agiert sie oft am Rande ihrer Leistungsfähigkeit. Für diese Frauen gibt es keine Politik Lobby. Sie werden von allen Seiten allein gelassen.

    Zu oft ist zu hören, dass Frauen sehr viel lieber zumindest die ersten drei Lebensjahre mit ihren Kindern verbringen würden, sich dies aber finanziell nicht erlauben können. Auch gibt es Frauen, die sich dem ökonomischen Verschleißprozess ausgeliefert fühlen und ihrem selbst gestellten Anspruch als Mutter aus ihrer Sicht nicht mehr gerecht werden können. Das Gefühl des Ausgebranntseins und der permanenten Überforderung steigt häufig mit der Anzahl der Kinder.

    Seit Jahren ist der Umstand bekannt, dass besonders Frauen mit Kindern unter extremer Altersarmut leiden. Viele Frauen können nur eine Teilzeittätigkeit ausüben. Aber auch hier gibt es ausschließlich die neoliberale Antwort: Frauen müssen mehr arbeiten – vollkommen egal, ob sie das tatsächlich auch leisten können oder nicht. Nur Leistung in ökonomisch verwertbarer Form lohnt sich!

    Es wirkt geradezu wie ein Hohn, dass selbst die linken Feministinnen nichts anderes predigen als diese neoliberale Lösung. Als ob Gleichberechtigung alternativlos erst dann erreicht wäre, wenn auch die letzte Frau dem alles überlegenen ökonomischen Verschleißprozess unterworfen wurde.

    Denn – das wird neuerdings so gerne vollkommen ausgeblendet – auch Frauen, die sich ausschließlich ihrer Familie widmen wollen, können durchaus emanzipiert sein. Nur weil sie andere Lebensentwürfe und -wünsche haben, sind sie weder dümmer oder unselbstständiger oder gar ‚Maskulinistinnen‘, wie der wenig intelligente Vorwurf von ausschließlich arbeitsmarktorientierten Feministinnen lautet. Aber sie werden durch die derzeit einseitig ausgelegte Politik in eine Unselbstständigkeit getrieben – weil es für sie keine finanzielle Unabhängigkeit gibt.

    Es braucht endlich einen vollkommen neuen sozial-, familien- und frauenpolitischen Ansatz, der nicht einseitig neoliberal ausgelegt ist, sondern allen Frauen gerecht wird. Dieser Ansatz muss im übrigen auch eine gleichberechtigte Komponente enthalten – in dem er nicht nur für Frauen, sondern für jeden gilt, der in erster Linie die Hauptlast der erzieherischen und familiären Arbeit tragen möchte. Offensichtlich ist es doch so, dass Arbeit nur dann wertvoll ist, wenn diese einen ökonomischen Wert besitzt. Da Kinder durchaus einen ökonomischen Wert haben, muss diesem Wert endlich Rechnung getragen werden.

    Dies könnte dadurch erfolgen, dass der daheimbleibende Elternteil sozial abgesichert ist. Damit würde vor allem der enorme Druck, der auf Alleinerziehenden und Angehörigen der unteren Einkommensschichten lastet, deutlich vermindert werden. Diese Frauen und Männer müssten dann nicht mehr gezwungenermaßen ihre kranken Kinder in KiTas und Schulen abliefern, weil ein Verlust des Arbeitsplatzes nicht mehr den sozialen Totalabsturz beinhalten würde.

    Diese Männer und Frauen können arbeiten, wenn sie dies wünschen, aber sie sind nicht mehr dazu gezwungen. Sie wären frei und unabhängig und könnten von Situation zu Situation ihre Kapazitäten neu bewerten und einordnen. Sie könnten sich, wenn es erforderlich ist, ganz ihrer Familie widmen oder einer Erwerbstätigkeit in Teilzeit nachgehen. Leistungsstarke Frauen können nach wie vor in Vollzeit arbeiten – aber ohne den permanenten Druck, dies zu müssen.

    Alleinerziehende, die derzeit einen großen Teil der Hartz-IV-Empfänger stellen (die weitaus größte Gruppe auch hier: Frauen), würden endlich aus dieser Gruppe herausfallen und würden nicht weiter von Amts wegen drangsaliert. Letztlich würde diese Gruppe damit auch nicht mehr in die Altersarmut fallen. Dieser Ansatz sollte im übrigen auch für die Menschen gelten, die sich dazu entschließen, pflegebedürftige Angehörige angemessen zu versorgen und nicht in ein Pflegeheim versorgen zu lassen.

    Die Lösung für die aktuellen Probleme in der Frauenpolitik sollte also nicht lauten: „Lebe wie ein Mann“, sondern „Lebe selbstbestimmt“. Auch wenn das bedeutet, sich nicht einem neoliberalen Verwertungsprozess zu unterziehen, sondern statt dessen einen anderen gesellschaftlichen Beitrag in Form von Erziehung oder Pflege zu leisten. Erst wenn Männer und Frauen sich tatsächlich individuell und vollkommen frei entscheiden können, welchen Lebensweg sie gehen wollen, wird es tatsächlich echte Gleichberechtigung geben. Denn nur eine Gesellschaft, die individuelle Entscheidungen ihrer Mitglieder – egal ob Mann oder Frau, Mutter oder Vater – als gleichwertig akzeptiert, kann sich tatsächlich als modern und aufgeklärt bezeichnen.